Der Theatertreffen-Blog, auch Reflexionstreffen genannt, ist seit 2009 fester Bestandteil des traditionsreichen deutschsprachigen Festivals. Die Plattform wurde ins Leben gerufen, um Diskussionen rund um das Festival und die dort gezeigten Theaterproduktionen zu ermöglichen. Seit 2016 wird der Blog von der Stiftung Presse-Haus NRZ gefördert.
Dieses Jahr hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, zusammen mit Antigone Akgün und unterstützt von Anna Reimnitz als Co-Kuratorin für den Theatertreffen-Blog zu arbeiten. Über einen Open Call wurden fünf Blogger_innen (aus fast 100 Bewerbungen) ausgewählt, die 18 Tage lang – also die gesamte Dauer des Festivals – gemeinsam mit uns den Blog gestalteten. Gesucht wurden Menschen, die beruflich mit dem Theater verbunden sind, aber auch diejenigen, für die unsere Zusammenarbeit keine selbstverständliche Fortsetzung ihres bisherigen Berufsweges war, d.h. Menschen aus Arbeiterfamilien, mit Migrationshintergrund und mit Kenntnissen über Kontexte außerhalb des deutschsprachigen Kulturraums.
Täglich trafen wir uns zu Redaktionssitzungen, in denen wir uns über die gesehenen Produktionen und Veranstaltungen austauschten. Die Arbeitssprachen waren Deutsch und Englisch. Unser Ziel war es, das Erlebte nicht nur zu beschreiben und ästhetisch zu bewerten, sondern es zu reflektieren und Verbindungen zu anderen gesellschaftlich, politisch und ökologisch relevanten Themen herzustellen. Als Redakteurinnen des Blogs haben wir den Stipendiat_innen dabei keine bestimmte Ausdrucksform vorgeschrieben. Wir förderten das Schreiben von Texten, die direkte Diskussion und konstruktive Kritik in der Gruppe, sowie das Übersetzen und Dolmetschen. Viele Formen der Zusammenarbeit wurden vor Ort im direkten Austausch entwickelt.
Neben dem reflexiven und kommentierenden Charakter unserer Arbeit, die sich hauptsächlich auf das Haus der Berliner Festspiele konzentrierte, entwickelten wir ein ergänzendes Begelitprogramm. Es basierte auf dem Anliegen „aus der Institution herauszugehen“ und Orte gemeinschaftlicher Kulturproduktion in verschiedenen Bezirken des vielsprachigen und multiethnischen Berlins zu besuchen. So waren wir in der ersten Festivalwoche beim Community Sender Cashmere Radio, mit dem wir einen Podcast produzierten, der die Veranstaltungen des Festivals zusammenfasste, und beim Kurdischen Frauenbüro für Frieden Cenî , wo wir einen Vortrag über strukturellen und militanten Feminismus hörten.
Insbesondere der Besuch des Kurdischen Frauenbüros unterschied sich von der Erfahrung, in einer Institution mit ihrem streng kontrollierten Zugang und vielen Ausschlüssen. Wir fanden einen lebendigen Ort vor, an dem sich Gemeinschaft, Kultur und gesellschaftspolitische Arbeit überschneiden. Am Eingang wurden wir mit Tee und Essen empfangen. Wir begannen unser Treffen mit einem gegenseitigen Kennenlernen und wurden dann durch die Räumlichkeiten geführt, in denen die kurdische Gemeinschaft ihre Zusammengehörigkeit pflegt und Veranstaltungen organisiert. Diese direkte Übersetzung von Sozial- in Kulturpraxis war eine der anregendsten Erfahrungen während des gesamten Theatertreffens. Denn zur Kulturproduktion gehören nicht nur die aufwändigen Inszenierungen auf der großen Bühne, sondern vor allem der konkrete Prozess der Gemeinschaftsbildung.
Ein weiterer Programmpunkt war der Besuch des Cultural Workers Studio in Kreuzberg, einer Gruppe von Kulturschaffenden, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, und solchen, die bereits in Berlin arbeiten. Axxi, Hanna und Richard zeigten uns ihr Gebäude und erzählten uns von ihrer Alltagspraxis. Sie teilten mit uns ein Video “Hanny in the Factory” über die Gefahr der Auslöschung der einheimischen Kultur in der Ukraine, bereiteten eine partizipative Performance vor und luden uns zum Gespräch bei Essen und Trinken ein.
Außerdem sahen wir Cornelia Herfurtners Ausstellung ‚Von Luftmatratzen, Stroh und anderen Waffen‚ in der Alpha Nova Galerie Futura über passive Bewaffnung, d.h. Gegenstände, die bei Demonstrationen ihre Funktion und Rolle ändern und aus gewöhnlichen Matratzen oder Taucherbrillen in den Augen der Behörden zu Beweismitteln in Strafverfahren gegen Aktivist_innen werden. Die Künstlerin und Aktivistin hat in einer aufwendigen Recherche die Gerichtsurteile gegen diejenigen nachverfolgt, die die jeweiligen Gegenstände bei Demonstrationen benutzt haben. Für die Ausstellung hat sie ihnen die Form von hölzernen Schildreliefs gegeben, in die sie die Objekte, die Hauptakteure in der Szene des sozialen Konflikts, geschnitzt hat. Die Künstlerin hinterfragte dadurch, wie Gewalt im demokratischen Staat hervorgebracht und gleichzeitig verschleiert wird und erkundete so die Deutungsmacht über den öffentlichen Raum.
Ebenfalls in Erinnerung geblieben ist mir das letzte Treffen der Reihe, ein Besuch bei der Redaktion von Arts of the Working Class, einem mehrsprachigen Straßenmagazin über Armut und Reichtum, Kunst und Soziales, das sowohl in gedruckter Form als auch als Online-Plattform existiert. Die Zeitschrift befasst sich mit verschiedenen Formen der kulturellen Produktion, die häufig nicht-institutionelle und nicht-kommerzielle Formen des Ausdrucks und der Verbreitung suchen. Die aktuelle Ausgabe befasst sich beispielsweise mit Basisorganisationen, Finanzierungsformen und Solidarität in transnationalen Zusammenhängen. Die gedruckte Ausgabe des Magazins wird von „Vendors“ vertrieben, d. h. von Personen, die das Magazin kostenlos von Verteilerstellen abnehmen und auf der Straße verkaufen können, wobei sie den erzielten Wert für sich behalten. Das Magazin wird durch öffentliche Mittel und durch Anzeigen finanziert, die hauptsächlich von Kultureinrichtungen in Auftrag gegeben werden.
TTBLOGs Programm der Reflexion, der Kritik und des „Rausgehens aus der Institution“ zielte darauf ab, die Diskussion darüber zu erweitern, was Theater ist, wie man den öffentlichen Kulturraum mitgestalten kann und wie realdemokratische, horizontale und zugängliche Institutionen der Zukunft nicht nur gedacht, sondern tatsächlich umgesetzt werden können. Denn nur durch konkretes Handeln wird die Institution und insbesondere das Theatertreffen einen wirklich öffentlichen Charakter erhalten, der den Elfenbeinturm des „Branchenevents“ verlässt. Das könnte mit Kleinigkeiten beginnen, wie dem Eingeständnis, dass Kultur und damit auch Theater in Deutschland, Österreich oder der Schweiz vielfältig und multikulturell ist und nicht automatisch deutschsprachig sein muss.