Die sechsstündige Performance-Lecture „Name her. Eine Suche nach den Frauen+“ mit Anne Tismer war vielleicht die größte Überraschung in der 10er-Auswahl. Mit dem Festival selbst hat sie dennoch mehr zu tun als nur die Übererfüllung der Frauenquote.
Madonna, die Mutter aller modernen Selbstermächtigung, liefert mit „Like A Prayer“ den Soundtrack zu Marie Schleefs Long-Durational-Lecture-Performance. Mit ihrem ikonischen und selbstbestimmten Namen schwebt sie als Schutzpatronin über diesem Abend. Anders als die Namen der unzähligen, oftmals von der Zeit vergessenen oder verdrängten Frauen, muss ihr Name nicht mehr genannt werden.
„Name Her. Eine Suche nach den Frauen+“ ist eine extrem umfangreiche und kollektive Recherchearbeit, unterwegs zu eben jenen. Vorgetragen und performt von Anne Tismer, führt diese den Abend in einem soghaften sechsstündigen Ritt durch das Alphabet. Dabei erinnert sie vor dem Triptychon aus Handyscreens an einen Gameshow-Host – zu gewinnen gibt es: eine geballte Ladung Anekdoten und eine Lektion in Sachen Subjektivität der Geschichtsschreibung.
Very streamable
Die digitale Collage wird durch Sprachnachrichten, YouTube-Schnipsel, GIFS und Musikeinlagen, eingehüllt in eine poppige 60er- und 70er-Jahre-Ästhetik leicht zugänglich, unterhaltsam und sehr streamable.
Marie Schleef, selbst anwesend im Raum und immer wieder im Austausch mit Anne Tismer, erstellt ein Lexikon aus scheinbar banalen und außergewöhnlichen weiblichen Errungenschaften und holt sie durch die Nennung ihrer Namen nicht nur näher in die Wirklichkeit, sondern schafft auch eine emotionale Anbindung. Sie thematisiert die Kraft der Namensgebung und -nennung anhand von Hurrikanen und Straßennamen. Stürme mit weiblichen Namen werden oft weniger als Bedrohung wahrgenommen und erhöhen somit die Gefahr auf einen lebensbedrohlichen Ausgang. Von über 300 Straßennamen in Berlin, die mit dem Buchstaben E anfangen, sind nur sechs Frauennamen, drei davon Holocaustüberlebende.
Die Performance könnte mit ihrem Schrein aus dreigeteilten bunten Digitaltafeln durchaus an eine Feier der weiblichen Narrative erinnern, würde man nicht irgendwann über Johanna Haarer stolpern, eine deutsche Ärztin unter dem NS-Regime und Autorin des Buches „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, ein pädagogischer Erziehungsratgeber, stark angelehnt an die NS-Ideologie. Dieser unkommentierte Moment wirkt neben beispielsweise Harriet Brooks, der Erfinderin des radioaktiven Rückstoßes oder Rosalind Franklin, der Entdeckerin der DNA-Struktur, durchaus irritierend und löst sich in seiner dramaturgischen Negativsetzung nicht mehr auf.
Abgesehen davon, liest sich die Lecture-Performance als Aufruf an die Theater-Dramaturgien, ihrer Arbeit gründlicher nachzukommen. Die Regisseurin entlarvt die Scheinheiligkeit der Leitungspositionen, indem sie von ihren persönlichen Erfahrungen erzählt: „Wir finden keine Frauen“ oder „Wir würden ja total gerne, aber alle Frauen, die wir angefragt haben, sind ausgebucht“ oder „Wenn du eine Idee hast, sind wir total offen“. In dem darauffolgenden Verweis auf Wikipedia wird die Aufforderung und Wut über die Zustände an den Häusern unverkennbar.
Vielfältige Zukunft
Die langen Nachhilfestunden von „Namer Her“ scheinen also durchaus nötig, auch wenn man sich vielleicht noch lieber eine Inszenierung einer dieser vielen Geschichten ansehen würde.
Ähnlich ist es mit der vieldiskutierten Einführung der Quote bei der 10er-Auswahl des Theatertreffens. Falls noch Zweifel bestehen sollten: Natürlich will das niemand einführen müssen. So viel sollte mittlerweile klar sein. Ebenso klar ist, dass der Hebel früher angesetzt werden müsste, damit eine Überschreibung des klassischen und männlich geprägten Kanons gelingt. Wirft man einen Blick auf die weiblichen Narrative der klassischen Dramatik, sieht es nämlich sehr dünn und trist aus, das gleiche gilt für die weiblichen Vorbilder im Theaterbetrieb. Ebenfalls lässt sich die, anfangs des Festivals aufgeworfene Frage „How to: Power“ anhand dieser Performance in Teilen beantworten – ein Verständnis für die Ambivalenz von Geschichtsschreibung und der Anspruch, denen ohne Stimme eine zu leihen. Marie Schleef, Anne Tismer und ihr gesamtes Team ebnen den Weg in eine hoffentlich nahe und vielfältige Zukunft, in der wir keine Quote mehr brauchen.
Name Her. Eine Suche nach den Frauen+
Eine Produktion von Marie Schleef in Kooperation mit dem Ballhaus Ost Berlin, dem Kosmos Theater Wien und den Münchner Kammerspielen
Idee, Konzept, Text, Inszenierung, Übertitel: Marie Schleef, Performance, Text: Anne Tismer, Bühne, Video- und Bildinstallation, Kostüme: Jule Saworski, Dramaturgie, Text, Übertitel: Laura Andreß, Kommunikation, Netzwerk: Wiebke Jahns, Video-Operator, Sounddesign, Inspizienz: Ruben Müller, Künstlerische Mitarbeit: Michiko Günther, Lichtdesign: Fabian Eichner.
Mit: Anne Tismer.
Premiere am 25. Oktober 2020
Dauer: 6 Stunden, 3 Pausen