Die Russen kommen.

Der russische Dramatiker Anton Tschechow ist einer der meist gespielten weltweit und auch im Repertoire des diesjährigen Theatertreffens mit Karin Henkels Inszenierung des „Kirschgarten“ anzutreffen. Für das Theatertreffen-Blog ein passender Anlass, um das Bild des „Russen an sich“ genauer zu betrachten. Warum kommt er einfach nicht aus der Mode?

Schon im Berlin der Goldenen Zwanziger waren führende Köpfe der russischen Theaterkultur in Berlin verortet. Den Westberliner Stadtteil Charlottenburg nannte man „Charlottengrad“, Berlin war Heimat der russischen Schriftsteller Maxim Gorki, Wladimir Majakowski, Boris Pasternak und Wladimir Nabokov. Heute siedeln dort langbeinige, Pelz tragende, blondierte Russinnen, ihr kühles Lächeln spiegelt sich in den Ku’damm-Shopping-Fensterscheiben. Ihre Männer widmen sich unsichtbar emsig dem Broterwerb, verstecken sich hinter Sonnenbrillen.

Auf der Bühne aber sind die Russen in Deutschland am liebsten depressiv, dramatisch und zu jeglichen Verrücktheiten bereit. Der besonnene, korrekte, emotionslose Deutsche schaut so gerne diesen haltlosen Emotionen der Wodka-trinkenden russischen Melancholiker zu. Wie ist das in Karin Henkels Inszenierung „Der Kirschgarten“? Ihre Russen feiern Dauerkirmes, sind verschwenderisch, tanzen ohne Unterlass, vernachlässigen Elternpflichten. Sie versuchen, sich an Paris (dem Westen?) zu messen, bleiben aber bildungsferner Landadel. Und, sie trinken Champagner. Ein Vorstoß zum Abbau von Vorurteilen?

Dramatiker, die in Russland berühmt und verehrt sind, wie beispielsweise Alexander Nikolajewitsch Ostrowski, haben es hierzulande nicht leicht. Der Meister der Komödie im 19. Jahrhundert, der das russische Kleinbürgertum seziert, kommt erst gar nicht in Deutschland an. Hier will man lieber die schwere russische Seele. Immer wieder Tschechow und Dostojewski. Ach, es ist so traurig: Der Russe fühlt sich in Deutschland generell missverstanden. Das gilt auch im Alltag. Wenn ich verkünde, dass ich trotz meiner sibirischen Mutter, keinen Alkohol vertrage, stößt das stets auf Unverständnis. Der Wodka sei im Kühlschrank schon gelagert und mindenstes ein Gläschen wär doch drin, komm schon… Aber mein Lieblingsgetränk ist Bionade.

Trotz allem sind die Russen keine Spielverderber. Sie lieben den großen Auftritt, beispielsweise kürzlich den des in Russland bekannten Schauspielers Jewgenij Mironow. Er lockte im März zum Festival Internationale Neue Dramatik im Gastspiel von Alvis Hermanis‘ „Schukschins Erzählungen“ Horden von russischen Berlinern in die Schaubühne. Endlich ein echter Russe von Größe in ihrem Stadtteil! Damit landete Thomas Ostermeier, der Kontaktmann zur Moskauer Theaterszene, den ganz großen Coup – die Russen werden des deutschen Theaters mit einer russischsprachigen Inszenierung bekehrt.

Der Russe an sich erfreut sich also andauernder Popularität, sei er dramatisch, blondiert oder der schweren russischen Seele verhaftet. Jetzt muss sich nur noch das Publikum mischen, Charlottenburger aller Länder, vereinigt euch! Vielleicht werden dann die Differenzen in der Interpretation im Foyergespräch beigelegt. Darauf einen Wodka.

–––

Anna Deibele, 1982 im Nordkaukasus/ Russland geboren, mit neun Jahren nach Deutschland eingewandert, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin und Madrid. Seit 2007 arbeitet sie als freie Radio-Autorin aus dem In- und Ausland, unter anderem für die Deutsche Welle, Deutschlandradio Kultur, WDR Funkhaus Europa und mdr Figaro. Außerdem unterrichtet sie argentinischen Tango und Klavier. Sie lebt in Berlin.

Alle Artikel