Heute hat mit „Trommeln in der Nacht“ die erste von zwei Inszenierungen der Münchner Kammerspiele TT-Premiere. Trotzdem muss Intendant Matthias Lilienthal 2020 gehen. Über unerwiderte Revolutionsgefühle an der Isar.
Theater muss sich verändern. Die Welt und die Gesellschaft verändern sich ja schließlich auch. Aber Veränderung ist nur erkennbar im Vergleich zu dem, was es vorher schon gab. Deswegen kann man auch anders sein, ohne etwas Neues zu erfinden. Hauptsache das, was man macht, ist anders als alles, was es dort schon gibt, wo man das Andere versucht. Oder wie es der Münchner Karl Valentin ausgedrückt hat: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“
Warum die heutigen Münchner und der momentane Intendant der Münchner Kammerspiele nicht mit einander auskommen, ist umso verzwickter, je länger man versucht, dem Problem auf den Grund zu gehen. Zunächst waren die Münchner aufgeschlossen. Am Anfang stand gleich mal kein Theaterstück, sondern eine Übernachtung. In provisorischen Hütten, die für maximal 250 Euro Materialeinsatz errichtet worden waren, sogenannten „Shabbyshabby Apartments“, konnte man die erste Nacht verbringen. Eine freundliche Art für einen Berliner, sich der Stadt München anzunähern. Was ist jenseits von Bayern über München bekannt? Dass das Wohnen hier absurd kostspielig ist. Bloß: Will sich das hier noch jemand erzählen lassen, wenn er eh schon unter den teuren Verhältnissen leidet?
Zu Beginn hatte man noch Geduld mit dem Fremden, der es hier probiert. Er bemühte sich, immerhin. Matthias Lilienthal war ein greifbarer Intendant, der sich sehen ließ in seinem Haus und auch in anderen Theatern. Irgendwann jedoch riss der lokalen Großkritik der Geduldsfaden. Konkreter Anlass war der Abgang einiger lieb gewonnener Ensemblemitglieder wie Brigitte Hobmeier, Katja Bürkle und Anna Drexler. Die fühlten sich nicht mehr zuhause in den Kammerspielen. Auf einer ganzen Seite im Feuilleton der Süddeutschen wurde uns erklärt, warum das nichts ist und auch nichts mehr werden kann unter Lilienthal: Kein solides Sprechtheater mehr, kein sauberes Schauspielhandwerk mehr, nur noch Performances und Kochkurse auf der Bühne. Das beste Ensemble Deutschlands, vielleicht sogar der Welt, vernichtet wie ein Schneemann in der Frühlingssonne. Katastrophe.
Kammerspiele, das bedeutete: Qualität
Immerhin ist da auf der anderen Straßenseite noch das äußerst sprechtheaterfreundliche Residenztheater, eine Theatermaschine mit einem immensem Ausstoß an Premieren aller Art: klassisch, originell, ordinär, modern, post-modern. Und vor allem mit einem immer tolleren Ensemble, nachdem einige der von den Kammerspielen Abgewanderten im Residenztheater bei Martin Kušej unterkamen. Nur eins war man hier eben nie: revolutionär.
Ein bisschen Revolution hätten die Münchner dann eben doch ganz gern. Und die richtige Dosis Revolution hatte man auch noch nach Ansicht vieler in der Ära Baumbauer mit Inszenierungen wie dem „Othello“ Luk Percevals oder mit Andreas Kriegenburgs „Nibelungen“, die beim Theatertreffen 2005 abräumten und sogar in Berlin die Zuschauer enthusiasmierten. Oder Heiner Müllers „Anatomie Titus“, das der spätere Intendant Johan Simons parallel zu einem „Titus Andronicus“ im Residenztheater herausbrachte. Während im Bayerischen Staatsschauspiel literweise Theaterblut floss und lebensecht Gliedmaßen abgetrennt wurden, konnte man an den Kammerspielen sehen, wie fein das Ensemble zusammenwirkte.
„Das Blöde ist: Die Motzerei läuft schon allein deswegen ins Leere, weil in den Kammerspielen eben doch richtig Theater gespielt wird.“
Johan Simons als Intendant wiederum arbeitete konsequent an eines Internationalisierung des Hauses, im Ensemble fanden sich neue Publikumslieblinge. Die Münchner Theaterwelt blieb in Ordnung. Man wusste weiterhin, was man bekam und man wusste, dass es Qualität war, weil es ja die Kammerspiele waren.
Und genau das weiß man jetzt unter Lilienthal eben nicht mehr. Man weiß noch nicht mal, ob das revolutionär ist, was man da zurzeit geboten bekommt oder ein Scheiß, den man in Berlin schon hunderttausend Mal gesehen hat und hier halt neu und abgefahren findet, weil man so wenig weiß oder so naiv ist, sich in ein Theater reinzusetzen und einfach mal abzuwarten, wie das, was da auf einen zukommt, wirkt.
Mehr Theater war unter Baumbauer und Simons auch nicht
Immerhin erkennt ein Großteil der Kritiker mittlerweile an, dass all die theatralen Maßnahmen respektive Theateraufführungen ein anderes Publikum in die Kammer locken konnten: Jüngere, Menschen mit Migrationshintergrund, eher Bildungsferne et cetera. Der Preis sei allerdings geistige Schlichtheit, bemängeln manche. Die bloße Erkenntnis, dass man ein bisschen netter zueinander sein solle, reiche halt nicht, werfen die ein, für die die Menge an Erkenntnisgewinn ein zuverlässiges Qualitätsmerkmal für ein Theatererlebnis ist. Mit fröhlichem Halbwissen bildet man sich schnell eine Meinung. Die CSU-Fraktion jedenfalls hat beschlossen, einer Vertragsverlängerung mit Matthias Lilienthal nicht mehr zuzustimmen. Das heißt, er muss 2020 gehen. Matthias Lilienthal nahm’s äußerlich gelassen hin.
Das Blöde ist: Die Motzerei läuft schon allein deswegen ins Leere, weil in den Kammerspielen eben doch richtig Theater gespielt wird. Bestes Beispiel ist Christopher Rüpings „Trommeln in der Nacht“. Man kann über diesen Umgang mit einem Brecht-Text diskutieren, doch zweifellos wissen hier alle Beteiligten, wie sie ihre Theatermittel einsetzen, um Wirkung zu erzielen. Diese Inszenierung ist großartiges Sprechtheater mit herausragenden Schauspielern, eine Einladung, über das Stück und seine Umsetzung zu streiten. Mehr Theater war unter Baumbauer und Simons auch nicht.
Aber auch andere grandiose Abende wie die „Mittelreich“-Überschreibung von Anta Helena Recke, Ersan Mondtags Auseinandersetzung mit dem NSU-Prozess in „Das Erbe“, „No Sex“ von Toshiki Okada oder Christopher Rüpings Adaption von Miranda Julys „Der erste fiese Typ“ beweisen, wie wichtig es ist, dass sich das Theater radikal zu seiner Subjektivität bekennt, um einen Hauch von Objektivität und damit Relevanz zu besitzen.
Die Kammerspiele sind im Moment wild, streitbar, experimentierfreudig, bewusstseinserweiternd. Die CSU will übrigens nicht mehr schuld sein. Lilienthal hätte ja um seine Verlängerung kämpfen können. Jetzt stehen die Politiker vor der schrecklichen Aufgabe, einen neuen Intendanten zu finden, der auf jeden Fall langweiliger ist als der vorherige. Karl Valentin hatte Recht: „Die Zukunft war früher auch besser.“