Gedankenbörse

Es gab einen Moment in meinem Leben, an dem mein Kopf zu klein war für das Chaos meiner Gedanken – als ich meine erste Theaterkritik schrieb, zu „Psychose 4.48“ von Sarah Kane, inszeniert von Branko Šimic am Staatsschauspiel Dresden. Nachdem das Papier meine Gedanken und Gefühle übernommen hatte, war mein Kopf erstaunlicherweise wieder frei und machte Platz für neue Eindrücke. Die Theaterkritik blieb unveröffentlicht. Neue Themen halten mich bis heute in Schach. Immer wieder besetzen sie meinen Kopf, bis ich eine Möglichkeit gefunden habe, sie in einen Radiobeitrag, ein Foto oder einen Text zu packen, um sie auf meinem Blog in die Welt zu schicken. Mein Blog ist wie mein zweites Ich. Er speist sich aus allem, was mein Leben ausmacht: Theater, Musik, Tanz, andere Kulturen.

Journalistisch zu arbeiten gibt mir die Freiheit, meine innere Unruhe auszuleben, außergewöhnlichen Menschen zu begegnen und mich mit ihnen auszutauschen. Und ich gebe diesen Menschen eine öffentliche Stimme, ich mache sie sichtbar. Das ist meine größte Motivation. Egal ob in Deutschland, Italien oder Venezuela, ich bin ganz nah am Leben dran. Mein Erlebnis wird zum Erlebnis vieler; mein Feuilleton ist eine Gedankenbörse. Und wer sich in eine Schlucht begibt und hineinruft, der weiß – am meisten reizt das Echo.

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Anna Deibele, 1982 im Nordkaukasus/ Russland geboren, mit neun Jahren nach Deutschland eingewandert, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin und Madrid. Seit 2007 arbeitet sie als freie Radio-Autorin aus dem In- und Ausland, unter anderem für die Deutsche Welle, Deutschlandradio Kultur, WDR Funkhaus Europa und mdr Figaro. Außerdem unterrichtet sie argentinischen Tango und Klavier. Sie lebt in Berlin.

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