Unser Autor schrieb schon für das Theatertreffen-Blog, als das noch die Festivalzeitung war. Seither hat er kein Theatertreffen mehr versäumt. Ein Rückblick auf die Highs & Lows der letzten zehn Jahre.
Es gibt wenige Theaterabende, die einen an den Rand des Wahnsinns treiben, einem alles abverlangen an Sitzfleisch, Kondition, Ekel-Toleranz – und einen dabei so tiefgreifend umwälzen, sehen und denken machen wie „John Gabriel Borkman“ von Vegard Vinge und Ida Müller. Vollkommen naiv stolperte ich damals in die Premiere im Volksbühnen-Prater, hatte nur brav meinen Ibsen gelesen. Und dann: Bam! Totaltheater, das aus allen Boxen auf mich einhämmerte, ein Puppenhaus-Splatter in Lebensgröße, ein äußerst fruchtbares Wühlen in den dramaturgischen Eingeweiden des Stücks. Elf Stunden lang! Nie werde ich vergessen, wie Gunhild elektronisch verzerrt in Endlosschleife „Erhard“ rief und ihr Sohn ebenfalls in unendlicher Wiederholung „Mutter“ stammelte. Als die Produktion im Theatertreffen-Tableau 2012 auftauchte, dachte ich nur: Yes!
Verschmelzende Altmeister-Abende
Was macht eine Inszenierung „bemerkenswert“? Darüber wird in der Theatertreffen-Jury jedes Jahr neu gestritten, und jedes Jahr beobachte ich, freue und ärgere mich, was dabei herauskommt. Seit ich 2006 Praktikant und 2007 Teilnehmer der Festivalzeitung war (damals noch als Print, mit langem Brüten über den Texten), habe ich so ziemlich jedes Theatertreffen begleitet, einen Großteil der Produktionen gesehen. Das war dann Theatersozialisationsphase 3. Phase 1 hieß: Alles gucken, was mir in meiner Region vorgesetzt wurde, vom Schul- bis zum Staatstheater. Phase 2: Alles gucken, worauf ich in Berlin Lust hatte oder wohin mich die Theaterwissenschafts-Dozenten trieben. Phase 3: Gucken, was überregional so los ist, so viel über den Tellerrand schauen wie möglich. Und meistens auch: Auskunft darüber geben.
„Wenn etwas beim Theatertreffen läuft, dann hat man ohnehin schon weitaus höhere Erwartungen als an eine durchschnittliche Premiere. In Erinnerung bleiben dann meist die produktiven Zumutungen.“
Was also war an den Theatertreffen-Auswahlen der letzten zehn Jahre bemerkenswert? Das hat in meiner Wahrnehmung viel mit Überraschung, mit Neuheit zu tun. Als in diesem Jahr wieder eine Vinge/Müller-Totaltheater-Produktion auf dem Tableau der „bemerkenswerten“ Zehn auftauchte, berührte mich das zum Beispiel wesentlich weniger als beim ersten Mal. Das ist ja eine dieser Erfahrungen, die man mit den Jahren macht: Besonders starke, eigenwillige Regiehandschriften verblassen schnell in der Wahrnehmung. Die ersten Theatertreffen-Einladungen von Herbert Fritsch habe ich noch begierig aufgesogen. Zuletzt waren mir seine Abende eher egal. Oder Susanne Kennedy: Kennste eine, kennste alle. Die eingeladenen Inszenierungen von Michael Thalheimer, Johan Simons und Nicolas Stemann, die ich damals teilweise mit großem Interesse gesehen habe (und manchmal auch mit großer Langeweile), verschmelzen in meiner Erinnerung zu je einem großen, überlangen Abend.
Wenn etwas beim Theatertreffen läuft, dann hat man ohnehin schon weitaus höhere Erwartungen als an eine durchschnittliche Premiere. In Erinnerung bleiben dann meist die produktiven Zumutungen. Christoph Schlingensiefs „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ war so ein Fall. Sein „Via Intolleranza 2“ hat mich 2011 als Requiem auf diesen merkwürdigen Ausnahmekünstler stärker berührt. Aber aufgeregt hat mich Schlingensiefs leibhaftiges, wütendes, das Publikum anpöbelndes Herumberserkern 2009. Ich fand das aufgesetzt, unangemessen. Vielleicht fühlte ich mich aber auch nur um mein Mitleid betrogen, das mir in den Uraufführungskritiken versprochen wurde. Ein Abend, der mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht.
Nervtötend und tränenziehend
Oder, ganz anders, „Life and Times 1“ vom Nature Theater of Oklahoma, dieses aufgekratzte Trashmusical, dessen Musik klang wie von einer Aerobic-Kassette aus den 80ern. Wie ging mir das auf den Keks in seiner Banalität! Und wie wunderbar war es gleichzeitig, wie wahr! Später habe ich alle weiteren Teile dieser Mittelklassejugend-Autobiografie gesehen und mich jedes Mal wieder gewundert, wie schnell ich hinterher das auch Nervtötende der Abende vergessen habe.
Und dann gibt es jene Lieblingsabende, die mich vor allem berührt haben. Da bin ich einfach gestrickt: Ich lache gerne, ich weine gerne, zuweilen auch mal unter Niveau. Ja, ich sehne mich danach, emotional angefasst zu werden – wenn es nur ums Verstehen ginge, könnte ich auch einen Essay lesen. Und dennoch ist das deutschsprachige Theater viel zu oft verkopft – oder unterhaltsam, aber ohne Tiefe.
Geliebt habe ich Joachim Meyerhoffs „Alle Toten fliegen hoch 1-3“ 2009, She She Pops „Testament“ 2011, Gob Squads „Before Your Very Eyes“ und René Polleschs „Kill Your Darlings“ 2012. Alles Abende, an die ich nur denken muss und schon sind die Emotionen wieder da. Dann 2013 „Disabled Theater“, ein Meilenstein, auch wenn die daraus entstandene Debatte, wie sich das Verhältnis von Künstler*innen mit Behinderung und dem Mainstream-Theater gestaltet, danach schnell wieder abflaute.
Und natürlich die Arbeiten von Milo Rau und Yael Ronen, die ich gerne noch viel öfter beim Theatertreffen gesehen hätte, weil mich ihre Mischung aus Pointen und Abgründen, hervorragenden Schauspielern und komplexen Themen, die nur selten vereinfacht werden, jedes Mal wieder neu kriegt: „Hate Radio“ und „Five Easy Pieces“ hier, „Common Ground“ und „The Situation“ da.
„Und dann: Warum fehlte…?“
Natürlich hat es in den letzten zehn Jahren auch glänzendes Schauspielertheater gegeben, das ich gerne gesehen habe, Roger Vontobels Dresdner „Don Carlos“ 2011 zum Beispiel, Alvis Hermanis’ Wiener „Platonow“ 2012, Simon Stones Basler „Drei Schwestern“ 2017. Und immer wieder erstaunlich viel Stadttheaterlangeweile. Was hatte Roland Schimmelpfennigs „Der goldene Drache“ 2010 beim Theatertreffen zu suchen? Karin Henkels öder „Kirschgarten“ 2011? Ihr wegsuppender „Macbeth“ 2012? Viktor Bodós Kunstgewerbe-Handke „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ 2010? Johan Simons grobschlächtiger „Kasimir und Karoline“-Rummelplatz 2010? Luk Percevals routinierter Fallada „Jeder stirbt für sich allein“ 2013?
Die Wege der Jury sind unergründlich
Und dann: Warum fehlte Thom Luz’ „Archiv des Unvollständigen“ aus Oldenburg 2013, seine beste Arbeit überhaupt? Warum wurde Kay Voges erst 2017 mit „Die Borderline Prozession“ eingeladen, obwohl er in Dortmund seit Jahren Theater macht, das Grenzen sprengt? Warum waren Castorfs „Brüder Karamasow“ nicht dabei? Warum nicht Falk Richters „Small Town Boy“ vom Gorki oder Yael Ronens Münchner „Point Of No Return“? Wieso hat es „Homohalal“ aus Dresden dieses Jahr nicht mal in die Diskussion geschafft? Zu komisch, zu zugespitzt, zu direkt? Das sind doch Abende, in denen sich auf ästhetisch spannende Weise das verdichtet, was gerade die Gesellschaft bewegt.
Aber gut: Die Juryentscheidungen sind Kompromisse, da treffen zum Teil sehr unterschiedliche Auffassungen von Theater aufeinander und es ist klar, dass am Ende kein Ideal steht, sondern Theaterrealität. Wie alle Auswahlen sind die Theatertreffen-Jahrgänge vor allem eines: Ein Diskussionsanstoß, ein Streitobjekt. In Zeiten, in denen Theater(kritik) immer stärker aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet, ist das gar nicht so verkehrt.