Häppchen essen Stücke auf

Warum spiegelt das Theater so oft bloß die Luxusprobleme unserer Wohlstandsgesellschaft, anstatt sie zu dekonstruieren? Warum scheint seine Widerstandskraft so geschwächt? Ein kritisches Zwischenfazit zum Theatertreffen.

Warum spiegelt das Theater so oft bloß die Luxusprobleme unserer Wohlstandsgesellschaft, anstatt sie zu dekonstruieren? Warum scheint seine Widerstandskraft so geschwächt? Ein kritisches Zwischenfazit zum Theatertreffen.

Die Häppchen haben viele Fans. Wenn ich mich mit den Häppchen anlege, habe ich bald viele Feindinnen und Feinde. Die Häppchen sind sowieso um einen Schritt voraus – sämtliche Tische besetzen sie direkt nach den Premieren. Das ist schade, denn auf einem dieser Tische könnte man sich in Stellung bringen, um zu verkünden: DIESES EVENT IST DEKADENT!

Erst die Stücke, dann die Häppchen, dann die Schnäpschen – so kenne ich das auch vom Familientreffen in Thüringen. Aber das Familientreffen in Thüringen wird, anders als das Theatertreffen in Berlin, nicht von Festspiele-Intendant Thomas Oberender eröffnet, der mit seinen Auftaktworten jedes große Problem der Gegenwart in den Theatersaal herein holt. Beim Familientreffen heißt es: Schön, dass ihr da seid, Prost, Mahlzeit. Wenn Thomas Oberender mit genau diesen Worten das Festival eröffnet hätte, dann hätte ich mich auch nicht gewundert, dass die nächsten vier Stunden mit den Wohlstandsproblemen weißer, mittel- bis oberschichtiger, heterosexueller Paare gefüllt sind – die Parallelen zum Thüringer Familientreffen (nennen wir es fortan TFT) mehren sich. Da in Oberenders Auftaktrede aber der Klimawandel und der raumgreifende Rechtspopulismus berechtigterweise Gehör verlangten, hatte ich die Erwartung, dass diese Themen im gesamten Festival vorkommen, und zwar in der Stücke- UND in der Häppchenauswahl.

Kein Schaufenster mehr

Der Titel „Schaufenster des Westens“, den das Theatertreffen zu Zeiten des kalten Krieges  im isolierten Westberlin oft trug, ließ sich am Eröffnungsabend leicht umdeuten und aktualisieren. Im Haus der Berliner Festspiele werden in der Inszenierung „Hotel Strindberg“ westliche Wohlstandsprobleme vorgeführt, statt den Wohlstand des Westens selber als Problem zu benennen. Danach gibt es Häppchen.  Halbe Käseplatten werden durch volle ersetzt – das sieht appetitlicher aus. Fertig ist das Schaufenster des Westens. Ein Schaufenster, in das leider niemand von außen herein schaut, denn alle stehen am Buffet. In der Eröffnungsrede machte uns Thomas Oberender weiterhin Hoffnung mit der Ansage, dass heute „so intensiv wie nur in echten Wendezeiten (…) die Privilegierten, Geschonten und Dominanten zur Reflexion gezwungen werden“.

Ja! Zwingt sie zur Reflexion, diese Privilegierten, Geschonten und Domi… Moment mal! Das bin ich! Der meint mich! Der meint sich! Ich will nicht von allen Menschen, die dem Eröffnungsevent des Theatertreffens beigewohnt haben, behaupten, sie seien privilegiert, geschont und dominant. Aber von mindestens einem Menschen kann ich das behaupten: Von mir. Wurde ich also bisher zur Reflexion gezwungen? Ja, zum Beispiel zur Reflexion über die  Existenzberechtigung wortarmen, bilderreichen Nebelmaschinenzaubers („Girl  from the Fog Mashine Factory“). Zur Reflexion darüber, ob eine Inszenierung voller misogyner Figuren selbst misogyn ist („Hotel Strindberg“). Zur Reflexion, wie sich das Altern auf der Bühne durch ein junges Ensemble verkörpern lässt („Fall on Pluto“) Zur Reflexion, ob das 90-Seitige Extrakt eines literarischen Riesenwerkes von 1500 Seiten noch etwas mit dem Ausgangsmaterial zu tun haben kann („Unendlicher Spaß“). Damit ist nur ein Bruchteil dessen genannt, was man an Themen und Gedanken während des Theatertreffens einsammeln kann und an dieser Stelle will ich darauf hinweisen, dass ich froh bin, hier zu sein und nicht beim TFT!

Was ist aus unserer Revolution geworden? Volker Löschs „Marat“ beim Theatertreffen 2009. Foto (c) A. T. Schäfer

Dass es dem Theater in Zeiten der erschwinglichen 360°-VR-Brille immer noch gelingt, Menschen in dreidimensionalen Räumen zu versammeln, ist stark. Dass die Versammlung theaterbegeisterter Menschen in soliden Zahlen auch dem Nicht-Bühnen-Programm beiwohnt, ebenfalls stark. Dass es dieses Nicht-Bühnen-Programm in Form von Diskussionen und Workshops überhaupt gibt – sehr, sehr stark! Dadurch wird bei diesem Festival, dessen Zentrum immer noch zehn ausgewählte Kunstwerke sind, die Eingebundenheit des Theaters und der Kunst in den gesellschaftlichen Kontext klar gemacht. Das finde ich wichtig, denn warum sollte sich die Gesellschaft für ein Theater interessieren, das sich nicht für die Gesellschaft interessiert? Warum würden wir als Gesellschaft sonst Theater brauchen? Oder ist brauchen das falsche Wort? Immerhin leben wir eine Normalität, die die Ressourcenbegrenztheit gekonnt ignoriert und bei unseren Konsumentscheidungen nicht nach dem Brauchen, sondern nach dem Wollen fragt. Will ich noch ein Häppchen? Will ich noch eine Handyhülle? Will ich den ganzen kalten November wirklich in Deutschland verbringen?

Auf Netflix kann niemand hoffen

Angenommen also wir wollen ein Theater, das wir nicht brauchen. Was soll uns dieses anbieten? Eskapismus? Ablenkung vor der globalen Wirklichkeit, die sich heute so penetrant aufdrängt wie nie zuvor? Das Internet hat die Verschmelzung von sozialer Isolation und Partizipation, von Eskapismus und Vernetzung geschafft. Da sitzt man alleine am Laptop und socialized. Da sitzt man im Theater und nervt die Leute neben sich, weil man mit Leuten ganz woanders Eindrücke sharen muss. Da sind Zerstreuung und Information nicht mehr trennbar, wenn man auf Facebook surft oder eine Doku nach der nächsten auf Netflix streamt. Unterhaltung ist unbegrenzt verfügbar und wird rund um die Uhr konsumiert. In dieser Gegenwart sollen Leute freiwillig ins Theater gehen, um Entertainment zu finden?

Anscheinend funktioniert das. „Hotel Strindberg“, dem ich abgesehen von der schauspielerischen Wucht nicht viel mehr Inhalt entnehmen konnte als der eher gut gemachten Netflix-Serie „Love“, war restlos ausverkauft. Gut möglich, dass es genau um den Aspekt des Gemeinsamen geht. Um den (vergleichsweise zur Couch) mühsamen Weg ins Theater, den steifen Theatersessel, die unflexible Programmwahl. Um das Ritual also. Wahrscheinlich auch um ein Selbstbild, das sich bestätigt. Man versichert sich seiner- oder ihrerselbst als kulturinteressierten Menschen. Das ist ja auch ein Aspekt: Im Theater wird die eigene Konsumentscheidung für andere sichtbar – zuhause, vor Netflix, haben nur die Algorithmen Einsicht.

Kunst darf alles. Dem ist schwer zu widersprechen. Theater darf auch einfach unterhaltsam sein. Theater darf sich auch einfach mit sich selbst beschäftigen, mit seinen Formen und seinen ästhetischen Gewohnheiten. Es darf vorm Spiegel stehen und überlegen, wie es sich optisch neu erfinden könnte. Es darf!

Theater als Kampfansage an den Rechtsruck: Falk Richters „FEAR“ an der Berliner Schaubühne. Foto (c) imago / DRAMA-berlin.de

Mich interessiert nur gerade mehr als das Dürfen das Können von Theater. Theater darf, kann aber mehr als sich selbst reflektieren. Es kann eine Lücke sein in der Gesellschaftsfassade, also sich selbst zum notwendigen Mittel machen, statt die Form zum Selbstzweck zu erheben. Denn: Sich mit der Form um der Form Willen zu beschäftigen, ist das nicht eine Eitelkeit, ein Luxus? Ist das nicht eine Fortsetzung unserer sich selbst umkreisenden, narzisstischen Gesellschaft,? Und ist ein Theater, das diese Attribute der Gesellschaft, aus der heraus es entsteht, einfach fortsetzt, nicht sehr wenig subversiv und reflexiv?

Wir, ich und Thomas Oberender – es schließe sich an, wer mag – wollen doch aber, dass „die Privilegierten, Geschonten und Dominanten zur Reflexion gezwungen werden“. Also bitte weg mit den Hotels und den Häppchen, damit wir den Luxus, in dem wir leben und der mitverantwortlich ist für gegenwärtige und zukünftige Probleme, sehen können. Und damit Platz auf den Tischen ist, falls sich jemand drauf stellen will, um derlei oder Anderes einzufordern.

Falls mich jetzt jemand darauf festnageln will, dass ich am Häppchenbuffet stand. Ja, ich finde Häppchen auch gut. Aber nicht halb so gut wie ein unbequemes Theater, das Widerstand gegen den Meinungs- und Handlungsmainstream leistet. Und was ist heute mehr Mainstream als die Normalisierung des materiellen (und kulinarischen) Überflusses? Diese Fragen und Forderungen würde ich nicht an Netflix stellen. Weil ich in Netflix keine großen Hoffnungen setze. In das Theater schon.

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Jorinde Minna Markert

In Berlin geboren, spielte lange in Film und Theater. Jetzt schreibt sie für letzteres und studiert in Hildesheim. Ihr Debüt „artgerechte haltung“ wurde am Schauspiel Hannover und Leipzig szenisch gelesen und ist derzeit für den Retzhofer Dramapreis 2019 nominiert.

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