Auf den Veranstaltungen von „TT-Kontext“ wurden am Wochenende die brennenden Themen des Theaterbetriebs in den Blick genommen. Wie sieht es aus mit einer gendergerechten Machtverteilung, wurden gute Vorsätze umgesetzt und welche Veränderungen stehen noch immer aus? Josephine Papke berichtet von zwei Panels und prüft, inwiefern sich die Sichtweisen in den verschiedenen Rängen unterscheiden.
Es braucht einen radikalen Wandel. Mitbestimmung auf Lohnausgleich, maximale Lohnangleichung, Arbeitsreduzierung, eine Intendanz, die auf 15 Personen verteilt ist – dies sind nur einige der Forderungen, die in den Diskurspanels zum Thema Machtverhältnisse an Theatern besprochen wurden. Von einer Umsetzung dieser Forderungen sind viele Häuser jedoch noch weit entfernt.
Wenn einer Schauspielerin in der Theaterprobe von einem Regisseur ein Schuh an den Kopf geworfen wird, sollte das nicht akzeptabel sein, macht Julia Wissert, Regisseurin und Intendantin des Schauspiel Dortmund, beim Panel „How to: Power“ deutlich. Inszenierungen glänzen oft mit intelligent und tiefgründig ausgehandelten Diskursen und sind dabei oft auch kritisch gegenüber Machtverhältnissen. Als eine erfolgreiche Inszenierung am Theater galt lange Zeit eine, die perfekt fertiggestellt und hoch umjubelt wurde.
Mittlerweile wird an diesem Erfolgskonzept gerüttelt: Wie erfolgreich kann eine Produktion sein, wenn das Ergebnis zwar nicht an den Strukturen und Arbeitsverhältnissen scheitert, die Mitwirkenden dafür aber noch lange Zeit psychische oder physische Narben tragen?
In die dritte Ausgabe des Panels „Practice What You Preach?!“ sind die Intendant:innen der 10er Auswahl eingeladen, darunter auch Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann vom Schauspielhaus Zürich. Beide berichten davon, wie die Doppelspitze ein kreatives Arbeiten ermöglicht, da die Unterschiede zwar eine Herausforderung dar-, vor allem aber qualitative Ergebnisse herstellen. Der Autor und Regisseur Kevin Rittberger denkt dieses Konzept im Panel „How to: Power“ weiter und fragt, ob sich eine künstlerische Intendanz über zwei „halbe Stellen“ hinaus denken ließe. Also eine, die nicht nur auf zwei oder fünf, sondern auf zehn bis 15 Personen plus Mitbestimmung aus Ensemble und Belegschaft aufgeteilt wäre. Während an einem Theater eine Spitze aus drei Intendant:innen gut gelingen könne, arbeite ein anderes Theater besser als Kollektiv, argumentiert Julia Wissert. Das eine sei nicht zwangsläufig besser als das andere, es ginge darum, die unterschiedlichen Konzepte auszuprobieren und anzuerkennen, statt ein einzelnes Konzept als Erfolgsgarant zu betiteln. Sie empfiehlt, dass unterschiedliche Herangehensweisen und Modelle transparenter gemacht werden, damit ihre Anwendbarkeit individuell herausgefunden werden kann.
Mehr Mut zur Nicht-Fertigstellung
Für das Zulassen von individuellen Bedingungen braucht es eine Übereinkunft, dass der menschliche Körper und seine Psyche während der Probenarbeiten nicht an die Grenzen der absoluten Erschöpfung und Zerstörung gebracht werden sollte. Auch nicht unter dem Vorwand, dass dies für das maximal erfolgreiche Endprodukt nötig sei. Möglich wird das über ein Neudenken der Kategorie Erfolg. Bei der Inszenierung „SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP“ wurde versucht, ein Probenklima zu erzeugen, in welchem darauf eingegangen werden kann, wenn eine Person aus dem Team keine Energie mehr hat. Anna Donderer, Künstlerische Produktionsleitung von Rat&Tat Kulturbüro, merkt an, wie schwierig das für einen Theaterprozess ist, da die harten Deadlines, die insbesondere durch das spezifisch geförderte Budget in der Freien Szene existierten, nicht einfach verlängert werden können. Donderer rät, sich darauf einzulassen, eine Produktion nicht zwangsläufig komplett fertigstellen zu müssen. Dafür zitiert sie die Perfomerin Lucy Wilke: „Wir sollten alle mal schauen auf welchem Level wir miteinander arbeiten und in welcher Ausbeutung wir uns entgegenkommen.“ Ein angenehmes und empathisches Betriebsklima kann auch oder gerade deshalb Exzellenz bedeuten, meint Kevin Rittberger. Warum ist es nach wie vor trotzdem eine Seltenheit? „Wir unterschätzen, dass die meisten Menschen gar nicht wissen, dass die Umstände innerhalb derer sie arbeiten, gewaltvolle Situationen und Strukturen sind“, erläutert Wissert und fragt an anderer Stelle im Panel:
„Was ist wichtiger: Das Gewohnheitsrecht oder die Transformation?“
In einer Runde werden die Intendant:innen gefragt, wer von ihnen jährlich mehr als 100.000 Euro verdient. Es meldet sich die Hälfte der Interviewten. Im Panel „How to: Power“ wird folgende Frage aufgeworfen: Wie hoch ist am Theater die Diskrepanz zwischen den entscheidungstragenden Bestverdienenden und den Geringverdienenden, die meist über kaum beziehungsweise keine Bestimmungsgewalt verfügen? Die Geringverdienenden sind allerdings auch auf diesem Panel nicht verteten. Und Julia Wissert verweist auf die Tatsache, dass Berufspositionen wie die der Techniker:innen in der Zusammensetzung der Diskurspanels im Theatertreffen außen vorgelassen wurden. Die Schauspielerin Linda Pöppel, Teil des EnsembleBündnisBerlin, fordert die Erweiterung des Ensemblebegriffs.
Nur wenn alle eingeschlossen werden, kann Theater als angstfreier Raum mit offenen Türen entstehen.
Angstfrei bedeutet nicht zwangsläufig furchtlos. Eigenverantwortliche Teilhabe, Mut und Mitbestimmung müssen erstmal erlernt werden, findet Linda Pöppel. Dafür müssten zunächst Räume etabliert werden, in denen man sprechen darf und in denen man gehört wird. Um dies zu ermöglichen, müsste zuerst über eine neue Streit- und Gesprächskultur nachgedacht und gesprochen werden. Damit diese Streitkultur Menschen gleichzeitig Respekt garantiert, bedarf es in den Theaterhäusern Anlaufstellen, die mit Handlungsmöglichkeiten ausgestattet sind. Auch Selbstorganisationen und Netzwerke tragen zur Veränderung von Machtdynamiken bei, wie das EnsembleBündnisBerlin. Jenes wurde im Januar 2021 für Schauspieler:innen in Berlin gegründet, um sich über das eigene Theaterhaus hinaus zu vernetzen und sich gemeinschaftlich als Berufsstand zu positionieren, auf Basis der Solidarität und entgegen der konkurrenzbedingten Vereinzelung. Die Panelist:innen sind sich einig: Nur wenn Lernprozesse der Theaterhäuser und Kollektive publik gemacht werden, wird ein Anreiz für weitere Theaterstätten geschaffen.
Aber bedeuten mehr Rechte für alle automatisch auch einen verringerten Wettstreit? Und inwieweit ist der Abbau von Konkurrenz im Theater überhaupt möglich? Julia Wissert verweist darauf, dass ein gänzlich kollegiales Sprechen theoretisch bereits durch den Rahmen der Diskussion im Theatertreffen verunmöglicht wird. Über die Abschaffung von Konkurrenzen bei einem Festival zu sprechen, das zehn Inszenierungen als die bemerkenswertesten betitelt, sei ein Spannungsverhältnis, das mitgedacht werden müsse. Dieser Aspekt könnte bei einem weiteren Panel in der Zukunft des Theatertreffens diskutiert werden. Bis dahin geben die Diskussionspanels über Machtfragen bereits einen wichtigen Anreiz für die Umsetzung eines Strukturwandels an den Theatern im deutschsprachigen Raum. Einem Wandel, an dem übrigens auch die Zuschauer:innen samt ihrer Unterstützung für bestimmte Häuser und Inszenierungen keine unwesentliche Rolle (vielleicht sogar die wesentlichste) leisten. Und so bleibt das Theater ohne Publikum gleich in mehrfacher Hinsicht machtlos.