Nurkan Erpulat und Jens Hillje inszenieren ein Stück über Macht, Freiheit und ihre Grenzen, frei nach Schiller und mit vorgehaltener Knarre.
Wie frei kann der Mensch eine Meinung äußern, wenn ihm eine Pistole an den Kopf gehalten wird? Wie frei kann der Mensch sein, wenn er keine Alternative hat als sich anpassen zu müssen? Und wie frei ist der Mensch, wenn der eigene Verstand, das eigene Gefühl oder aber das Klischee des anderen ihm Grenzen setzen? Der Regisseur Nurkan Erpulat und der Dramaturg Jens Hillje werfen mit ihrer Bearbeitung des französischen Films „Heute trage ich Rock“ als Schultheaterstunde viele Fragen der nimmer enden wollenden Integrationsdebatte auf:
Sonia Kelich hat es geschafft. Sie ist eine der wenigen „Erfolgskanaken“ – akzentfreies prononciertes Deutsch, aufklärerische Ideale Schillers im Geist, Studienrätin von Beruf und ein deutscher Mann in petto. Umso stärker werden ihre „neuen“ Ideale von rotzenden und spuckenden Schülern aus Neukölln und Kreuzberg durch den Dreck gezogen, die damit beschäftigt sind, in Kelich’s Klassenraum ihre Territorialkämpfe auszufechten.
In ihren innersten Werten bedroht, reißt die Deutschlehrerin die Macht an sich, als ihr eine Waffe eines ihrer Schüler in den Schoß fällt. Mit Gewalt setzt sie ihre Werte durch: Schillers „Kabale und Liebe“ und „Die Räuber“ werden auf Kosten einer durchgeschossenen Hand, blutender Nasen und eines abgelegten Kopftuchs durchgespielt. Am Ende setzt die erhoffte Katharsis ein, zumindest auf der Bühne. Die Klasse wird zu einer Musterklasse, übernimmt die Ideale der Lehrerin und erlässt dem Querulanten die Strafe. Wir lernen, was sie gelernt haben: Gewalt bringt doch gar nichts.
Nurkan Erpulat und Jens Hillje sind bei dieser Inszenierung ehrlich und erstaunlich nüchtern. Es wird nichts beschönigt, aber auch nichts weggelassen. Ein politischer Fingerzeig auf ein demokratisches System, dass jedem Bürger auf „Augenhöhe“ begegnen möchte und doch in seiner Grundidee versagt: Es möchte Menschen, die mit unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen sind, in eine Schablone pressen, sie zurechtstutzen – damit sie in der Gesellschaft unsichtbar sind. Anders-Sein macht im demokratischen System Angst, wenn dieses Anders-Sein die Schranken des „Normalen“ sprengt. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird mit vorgehaltener Waffe verteidigt, also bestimmt hier der Stärkere, wohin die Meinung gehen darf.
„Umarmt euch! Manchmal wird man eben zu etwas gezwungen!“ und „Ich will euch helfen!“ ist ein Credo, bei dem der Betroffene gar nicht gefragt wird, ob er der Hilfe bedarf. Er hat sich anzupassen, sich zu integrieren – sie, die Frau Studienrätin, hat es doch schließlich auch geschafft. Die Protagonistin kämpft gegen ihre Schüler und auch gegen ihre erlernten Werte. Eine Frau, die einen Rock trägt, ist eine Nutte? Es sind solche Klischee-Bilder, die ihr das Leben als moderne deutsch-türkische Frau schwer machen. Sie verheimlicht ihre Herkunft: Schließlich ist das doch „scheißegal, dass sie Türkin“ ist. „Das spielt doch keine Rolle!“ Sie lehnt sich auf gegen eine vermeintliche Opferrolle: Auch wenn dich dein Vater geschlagen hat, wenn du Sozialhilfe-Empfänger oder malträtierter Kurde bist, kannst du doch bitte mal deine Gefühle und Traumata wegstecken und dich in unser gemäßigtes Glücklich-Sein einreihen.
In „Verrücktes Blut“ steckt die Sehnsucht nach einer humanistischen Gesellschaft ohne Vorurteile und ohne Moralapostel. Aber dieses Wunschbild bleibt dort stecken, wo der Zuschauer Halt macht. Die von den Schülern nachgespielten Szenen aus Schillerschen Dramen werden dort komisch, wo ein türkischer Schauspieler als Fritz oder als Ferdinand auf der Bühne steht, perfektes Hochdeutsch spricht und in seiner Rolle aufgeht. Dieses Bild entspricht nicht der Gewohnheit, es irritiert. Diese Schauspieler haben sich wohl erfolgreich „integriert“.
Es bleibt nur eines zu fragen: Warum spielen Schauspieler mit Migrationshintergrund so selten auf deutschen Bühnen? Warum haben sich nur wenige Bühnen das Wort Postmigration auf die Fahnen geschrieben? Und ist die Bezeichnung Migrationshintergrund nicht sogar eine Diskriminierung, indem das Anders-Sein des Anderen durch ein scheinbar politisch korrektes Wort hervorgehoben wird? Bis jetzt findet der humanistische Wunschtraum eines Nurkan Erpulat nur hinter den Kulissen statt, wenn sein multinationales Team nach der Aufführung unter begeistertem Applaus auf die Bühne kommt. Vielleicht integrieren nach diesem Stück auch bald andere deutsche Bühnen diejenigen, die sich schon lange integriert haben. In „Verrücktes Blut“ erheben sie Anspruch und verlangen ihre Rechte.