Moritat vom öden Land

Im letzten Mai verbrachte unser Autor die ersten Tage des Theatertreffens in Isolation auf dem Land. Jetzt ist er zurückgekehrt – und findet eine andere Welt vor.

Im letzten Mai verbrachte unser Autor die ersten Tage des Theatertreffens in Isolation auf dem Land. Jetzt ist er zurückgekehrt – und findet eine andere Welt vor.

Vor einem Jahr, da war alles so neu, richtig grün, da hat sich alles und jeder neu erfunden. Da spross und sprießte alles im Garten, man grüßte sich am Feldrand. Ein Jahr später ist die Kuh geschlachtet. Mit ihr ist das Kalb verschwunden. Eine alte Birke, an der Hitze vergangen, ist gefällt und allgemein sind viele Tote zu beklagen. Der Igel beerdigt, das Vogelhaus mit den an einer Seuche verendeten Blaumeisenküken verbrannt, einige Fichten haben es nicht geschafft. Hat eine gewisse Morbidität, die Natur.

Auch Corona hat etwas von seiner Unschuld verloren. Ein Kampf ist ausgebrochen, eine neue Verteilung der Ressourcen hat begonnen. Die Theater haben die Zeit genutzt, sich ausführlich mit sich selbst zu beschäftigen.

Die Grüne Woche nennt sich selbst das Davos des Agrarbusiness.

Die Theater sind digitalisiert, sie haben sich für alle Welt geöffnet: die Klassen sind abgeschafft. Alle haben die Zeit genutzt, sich gut zu überlegen, wie „wir“ miteinander umgehen wollen. In Bremen kriegen jetzt alle ein paar Euro mehr. Von den Schnürböden ruft es herab: Fragt euch, auf welcher Seite der Geschichte ihr stehen wollt. Im Garten pfeifen die Spatzen von den Dächern. Es wird sich einiges ändern, alles ist anders.

Ganz entfernt ein Pfauenschrei: Ein kurzer Wirbel um die eigene Achse.

Ich denke an die Grüne Woche. Ist das nicht skurril? Da fahren tausende Bauern aus ganz Deutschland hin und präsentieren ihre neuesten Jung- und Zuchtbullen. Also vor allem natürlich die Agrarindustrie, die großen Betriebe. Und alle staunen über die agrarindustrielle Potenz dieses Landes. Ohhhh, ahhh, 50 Liter Milchleistung, 10.000 pro Laktationsperiode. Eier, Honig, Bio und etwas Exotisches aus dem Gastland. Und erst der Hightech. Wussten Sie, dass die Zukunft der Landwirtschaft in der Digitalisierung liegt? Sonst ist der deutsche Biomassemais nicht mehr konkurrenzfähig.

Eine Autotür klappt, ganz nah.

Draußen wehen Staubwolken über nackte Erde. Kamele sind übrigens auch nicht konkurrenzfähig, mit ihren 20 Liter Milch am Tag. Aber genügsame, widerständige Biester sind das. Die Grüne Woche nennt sich selbst das Davos des Agrarbusiness. Es gibt aber auch immer etwas fürs Herz. Das Wohl unserer unglücklichen Schweine liegt uns am Herzen, die sollen nicht mehr unglücklich sein. Oder so. Grüne Kernanliegen. Klar ist aber: „Wer seit 1926 besteht, weiß wie Traditionen gepflegt und gleichzeitig Innovationen, für das fortlaufende Bestehen, geschaffen werden.“ Die Jungbullen lassen die Muskeln spielen. Essen muss ja schließlich jeder. Glänzendes Fell, stählerne Hufe, das Beste, was die Zucht hierzulande zu bieten hat. Aber es gilt nicht erst seit Gerhard Stadelmaier: Nur angucken, nicht anfassen. Jetzt sowieso. Wieder ein Auto. Keine Tür klappt, der Fahrer lässt den Motor laufen. Es ist Zeit.

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Victor Osterloh

Jahrgang 1995, aus Berlin, wo er Literatur und Politik studiert. Arbeitete nebenbei beim Hörfunk und derzeit am Theater.

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