„Die Jungfrau von Orleans“: die Grundlage ein Klassiker, die Inszenierung eine Dekonstruktion. Doch was ändert sich beim Theaterbesuch, wenn das Drama in den Hintergrund tritt? In kurzen Texten nähern sich Berliner Schüler*innen ihrer eigenen Wahrnehmung und finden Worte dafür, was in der Aufführung jenseits von Schiller passiert.
Der Dramenkanon der deutschsprachigen Theaterlandschaft steht derzeit immer wieder in der Kritik und wird auf seine Relevanz und den Umgang damit befragt. Beibehalten, wegwerfen oder überschreiben? In ihrer Inszenierung am Nationaltheater Mannheim haben Ewelina Marciniak und Joanna Bednarczyk Narrative des Klassikers hinterfragt und in eine eigene Textfassung umgeschrieben. Doch wie beschreibt man dieses Neue? Woran lässt sich anknüpfen, wenn Schillers Geschichte nicht mehr im Vordergrund steht?
In zwei Workshops von dem Theaterwissenschaftler Dr. Torsten Jost (Freie Universität Berlin) geleiteten Workshops haben Schüler*innen der 10. und 11. Klasse des Rheingau Gymnasiums und des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums in Berlin sich diese Frage gestellt.
Ausgehend von Begriffen wie „Verwirrung“, „Geräusche“, „Provokation“ oder „Natürlichkeit“ nähern sich die Schüler*innen in ihren Texten der Inszenierung „Die Jungfrau von Orleans“ in der Bearbeitung von Ewelina Marciniak und Joanna Bednarczyk. Entstanden sind feinfühlige Beschreibungen und spannende Gedankenimpulse rund um das Aufführungserlebnis. Der Workshop zur Aufführungsanalyse fand beim Open Campus Programm des 59. Theatertreffens in Kooperation mit der LiteraturInitiative Berlin (LIN) statt.
Natürlichkeit
Schauspiel, das sich nur innerhalb einer Rolle befindet, oder Bühnenbilder, die versuchen, ein genaues Abbild vom Original zu schaffen – das versteht man unter Natürlichkeit. Doch was passiert, wenn Natürlichkeit gebrochen wird? Wenn Schauspieler*innen aus ihren Rollen treten? Wie wirkt das auf uns Zuschauer*innen? In der Inszenierung des Nationaltheater Mannheim wird die Geschichte grundlegend umgeschrieben. Schauspieler*innen hinterfragen und kritisieren zu Häufe. Vom Original bleiben lediglich noch ein wenig Text und die Hülle übrig.
Die Inszenierung spielt mit Kameras, Projektionen auf mehreren Ebenen und das Bühnenbild samt Swimmingpool und Brüste-Leuchter hat so gar nichts mehr mit den Requisiten des Schiller Dramas zu tun. Hier verschwindet schon mal das Natürliche von der Bildfläche. Keiner der Schauspieler*innen verbleibt in der pathetischen Rolle, alle zwei Minuten hört man Kommentare, Ironie, Fremdtexte oder Monologe. Totale Dekonstruktion! Doch es wirkt hölzern und fremd auf mich. Diese Figuren wirken beispielsweise trotz Ironie zu kühl. Verbindungen zwischen Bühne und Publikum verpuffen einfach, weil eine gewisse Echtheit oder das Natürliche in diesen Figuren fehlt.
David
Elektrisierende Wirkung
Das von Schiller geschriebene Drama „Die Jungfrau von Orleans“ wurde im Theatertreffen 2022 als ein modernes Theaterstück aufgeführt. Die Aufführung fand als Film-/Theatervorstellung statt. Dies veränderte auch die Elektrisierung des Stücks. Während der Filmvorstellung herrschte keine durchgehend elektrisierende Spannung im Publikum. Als Beobachter*in wurde man jedoch oft durch laute Aufschreie und emotionale Dialoge von den Schauspieler*innen mitgerissen. In der Live-Theatervorstellung herrschte jedoch eine aufgeladene Stimmung. Durch den langen Monolog von Johanna am Ende herrschten Ruhe und Spannung im Publikum. In einem Moment, in dem jede*r still Johanna zuhören wollte, in dem jeder still Johanna zuhören wollte, entscheidet sich eine Dame, durchgängig im Publikum zu lachen. Eigenartig oder? In einer solchen emotionalen Szene fällt der Kontrast zwischen dem ruhigen Publikum und der lachenden Frau doch sehr auf. Für mich war das wiederholte Lachen der Frau deplatziert, da es keinen eindeutigen Grund gab und die Elektrisierung somit gestört wurde.
Luise
Geräusche
In dem Theaterstück „Die Jungfrau von Orleans“ ist mir aufgefallen, dass Alltagsgeräusche, wie laufen, essen oder trinken nachgeahmt wurden und man sie überdeutlich wahrgenommen hat. Ebenso spielte die Atmung (als Geräusch) hier eine große Rolle. Es ist ein Geräusch, welches mir am meisten in Erinnerung blieb. Gleich die erste Szene fing mit ihr an und das ganze Publikum wurde leise. Die ersten Geräusche der Aufführung steigerten sich schnell und wurden lauter, bis sie von dem lauten Ausatmen einer Frau übertönt und dadurch abgelöst wurden. Man sieht in der Szene wie ein Mann, ihr Vater, vor ihr steht und ihr eine Backpfeife gibt; sie atmet aus und gleichzeitig schleudert in Zeitlupe ihr Kopf zur Seite. Beim zweiten lauten Ausatmen richtet sie sich wieder etwas auf und starrt ihr Gegenüber entsetzt und fassungslos an, bevor sie wieder kippt. Im ersten Augenblick wirkte das Publikum (wie ich auch) ruhig, aber überrascht, der Atem wird angehalten oder raus gelassen, als würde man die Frau imitieren. Es kommt eine kurze Welle von Stille, in der man sich fragt, was gerade eigentlich passiert ist und wie es weitergeht. Was das Ganze noch so spannend macht, ist, dass man (ich) ein anderes Geräusch erwartet habe – die Backpfeife. Man sieht wie die männliche Person mit dem Arm ausholt und zuschlägt: das erwartete Geräusch ist ein Knallen, aber stattdessen ist es ruhig und man hört ein nicht scharfes, sondern weiches Geräusch.
Bintou
Historische Re-Interpretation
Insbesondere ein Ausschnitt ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Die Jungfrau spricht mit einer Freundin über Liebe und Beziehungen. Ihre Freundin ist bereits vergeben und erzählt ihr von dem Kennenlernen ihres Liebhabers. Sie spricht darüber, dass sie sich im Club trafen und es da direkt gefunkt habe. Anschließend hätten sie eine Woche nicht das Bett verlassen. Historisch gesehen ist das natürlich nicht möglich, da das Stück im 14. Jahrhundert spielt. Was macht dieses Kennenlernen also mit uns und warum erinnere ich mich so prägnant daran? Es schafft eine Art Bindung zu dem*der Zuschauer*in. Für das Publikum wird es nachvollziehbarer, was mit ihnen passiert ist und wie heftig sie sich verliebt haben. Sie sprach davon, dass sie eine Woche nicht das Bett verlassen hätten. Man kann sich so vorstellen, wie heftig es zwischen den Beiden gefunkt haben muss. Wäre es so ausgedrückt worden: wir sahen uns das erste Mal auf einem Ball und ich verliebte mich sofort in ihn und seine Erscheinung, obwohl ich ihn noch nie vorher erblickt habe, hätte man es zwar verstanden, aber eine gewisse Distanz wäre doch geblieben. Auch der Aspekt mit dem Club macht es realitätsnäher. Vielleicht haben einige im Zuschauer*innenraum ihre Lebensgefährt*innen wirklich im Club kennengelernt und so könnte diese Geschichte zu ein paar nostalgischen Augenblicken führen. Die Geschichte an sich – eine junge Frau, die in den Krieg zieht und ihr Vaterland rettet – ist schon realitätsfern genug. Wenn dann aber kleine Aspekte der heutigen Zeit eingestreut werden, schafft das eine Brücke zu den Zuschauer*innen/Zuhörer*innen.
Amelie
Persönlicher Bezug
Der Saal ist in Schwärze getaucht, eine viereckige Fläche, durch die rotes Licht scheint, ist die einzige Lichtquelle. Dann ertönt ein Beat, der sich nach Techno anhört, und ein Scheinwerfer leuchtet hinab auf eine Frau, die auf silbernen High Heels im Wasser steht und sich rhythmisch zur der Musik bewegt. Das Licht flackert ein wenig und Nebel schleicht sich über den Boden. Die Frau hat braune Locken, die in manchen Momenten sogar leicht dunkelblond aussehen, und trägt einen schimmernden Zweiteiler. Sie wirft ihre Arme zur Seite und ihren Kopf wild vor und zurück. Dann gesellen sich noch drei weitere Personen zu ihr und stimmen in ihre Bewegungen mit ein. Sie alle bewegen sich synchron, was eine gewisse Atmosphäre erzeugt. Und das erinnert mich an meine eigenen Erfahrungen mit dem Tanzen, als ich vor einigen Jahren selbst auf der Bühne stand und ein Scheinwerfer auf mich gerichtet war. Die Kombination aus Tanz und Musik faszinierte mich schon immer mit am meisten: wie Körperbewegungen sich an die Musik anpassen und miteinander harmonieren, so wie es in dieser Szene der Inszenierung „Die Jungfrau von Orleans“ der Fall gewesen ist.
Ein Theaterbesuch ist nicht nur der alleinige Akt des Anschauens und Zusehens der Schauspieler*innen, die auf einer Bühne stehen und ihren Text aufsagen, sondern immer auch eine Erfahrung, die bestenfalls mit Gefühlen und vielen Emotionen einhergeht. Somit ist es auch ganz natürlich, einen persönlichen Bezug, eine persönliche Verknüpfung zu einzelnen Elementen des Stücks herzustellen.
Elisa
Provokation
Ein pinkelnder Engländer, ein Plastikbaby mit verdrehten Gliedern, das über die Bühne geworfen wird, und ekstatische Tänze, begleitet von affenartigen Schreien und Grunzlauten – man könnte meinen, vieles in der Inszenierung des Stücks „Die Jungfrau von Orleans“ von der Regisseurin Ewelina Marciniak und der Dramaturgin Joanna Bednarczyk ist auf Provokation angelegt. Von der Geschichte der Nationalheldin Jeanne d‘Arc scheint nicht mehr viel übrig geblieben zu sein, die Inszenierung ist schockierend modern und konfrontiert mit Themen wie Sexualität und dem Frauenbild in der Gesellschaft, was teilweise im scharfen Kontrast zu der eigentlichen Enthaltsamkeit und Gottesfürchtigkeit der historischen Figur Jeanne d´Arc steht. Auf so eine Vorstellung schienen viele der Zuschauer*innen allerdings nicht vorbereitet zu sein.
Als Matthias Breitenbach in der Rolle des Talbots nackt auf der Bühne auftaucht, beschwörend auf die Hauptdarstellerin einredet und anschließend unter hysterischem Gelächter ziellos umherrennt, setzen sich viele Zuschauer*innen ernüchtert in ihren Sitzen auf, ein unruhiger Blick geht zur Uhr und ein peinlich berührter Fragender zum*zur Nachbar*in. Einige Lacher gehen durch die Menge. Die Intention hinter einer solch provokanten, neuzeitlichen Interpretation des Stücks? Eine stumpfe, repetitive Nacherzählung historischer Gegebenheiten wohl jedenfalls nicht. Die Zuschauer*innen aus ihrer Reserve zu locken, aufzurütteln und aus der Komfortzone ihres begrenzten, eingeengten Verständnisses von Kunst, Ästhetik und Theater zu treiben, ist Marciniak und Bednarczyk dafür sicherlich gelungen.
Hannah
Verwirrung
Durch die Neuinszenierung von Schillers Stück „Die Jungfrau von Orleans“, spürt das Publikum oft das Gefühl der Verwirrung. Es verwirrt, dass Johanna mit einem nicht bekleideten Mann spricht und sie sich über die Bühne jagen. Es verwirrt das Wasser auf der Bühne oder die Zwischensequenzen, in denen die Schauspieler*innen fast aus ihren Rollen wieder hinausschlüpfen; aber eben das regt zum Nachdenken an. Wen sollte der Mann darstellen, wieso hatte er nichts an? In der Szene sieht man wie der Schauspieler, der erst Talbot verkörperte, nun nicht bekleidet Johanna zuredet und zur Umkehr animiert. Das Publikum reagiert etwas erstaunt und man vernimmt teilweise etwas verwundertes Lachen, vor allem bei der Jagd über die Bühne. Die Schauspieler*innen wirken jedoch sehr gefasst und in ihrer Rolle. Auch Matthias Breitenbach lässt sich keine Unsicherheit durch seine Entblößtheit anmerken. Die Verwirrung trägt dazu bei, das Neue und Moderne zu schaffen, sie unterstreicht es. Sie dient als Darstellung und Anregung. Verwirrung irritiert das Denken, man hält inne und versucht, das Stück an sich ran zu lassen, um es zu verstehen.
Carla
Moderne Stilmittel
„Die Jungfrau von Orleans“ ist ein sehr bekanntes Werk. Die meisten, die den Namen hören, denken sofort an das gleichnamige Drama von Friedrich Schiller und vor allem an eine revolutionäre, geheimnisvolle Frau, die Frankreich im 15. Jahrhundert durch die Stimme Gottes in ihren Ohren zu dem Sieg gegen die Briten verhalf.
Doch wer war Jeanne d’Arc, wie die französische Nationalheldin auch genannt wird, unter den vielen Vorurteilen und Zuschreibungen wirklich? Und wie kann man ihren Charakter und ihre Geschichte in die heutige Zeit umwandeln? Damit setzten sich die Regisseurin Ewelina Marciniak und die Dramaturgin Joanna Bednarczyk auseinander und entwickelten in diesem Zuge die bearbeitete Fassung der „Die Jungfrau von Orleans“, die sich unsere Projektgruppe in dem eindrucksvollen Theaterraum des Hauses der Berliner Festspiele anschauen durfte.
Recht zu Beginn des Stückes sitzen Johanna (Jeanne) und ihr Vater Thibaut auf einer großen Couch in der Mitte der Bühne, darüber ist ein Bild projiziert, das die beiden zeigt, allerdings nach einer Streit-Szene, die vorher passierte. Thibaut drückt seine Sorge darüber aus, dass Johanna nun reifer wird und sich in ihrem Liebesleben ausprobiert: Er hat Angst, dass sie sich zu wenig um einen bodenständigen, „ordentlichen“ Mann kümmert.
„Die treue Brust des braven Mannes allein ist ein sturmfestes Dach in diesen Zeiten!“, sagt Thibaut zu seiner Tochter. Doch nur kurze Zeit später behauptet er: „Du, mir ist das scheißegal, ob du nicht daran denkst! An deine Zukunft!“, dabei bewegen sich die Schauspieler*innen von der einen Couch zur nächsten, die auf der linken Seite der Bühne steht. Dieses Wechselspiel und das gleichzeitige Aufeinandertreffen von der altertümlich wirkenden und der modernen Sprechweise lässt einen aufhorchen und ermöglicht zugleich einen viel leichteren Zugang zu dem Stück: Die modernen Sprachfetzen, die wie Einwürfe aus der heutigen Zeit wirken, reißen die Zuschauer*innen in die Welt Johannas hinein – man kann sich selbst dadurch besser in die Situation der beiden hineinversetzen und auf einmal ist einem das Geschehen auf der Bühne ganz nah. Um die Geschehnisse rund um Jeanne d‘Arcs mysteriöse Erscheinung so zu erzählen und umzuwandeln, dass sie in die heutige Zeit passen, haben Marciniak und Bednarczyk in der Inszenierung viele weitere Gestaltungsmerkmale verwendet. So ist das Bühnenbild beispielweise sehr reduziert, es dominieren moderne, klare Formen und Farben. Die Kostüme sind ganz und gar nicht traditionell und altertümlich, wie man es sich bei einer klassischen Aufführung der Johanna von Orleans vorstellt, sondern eher ausgefallen und experimentell. Auch das Verhalten der Charaktere zueinander wirkt neuzeitlich: Die lockere, freche Art, in der Johanna mit ihrem Vater zu Beginn des Stückes umgeht, steht im Kontrast zu dem sehr literarischen und gehobenen Umgangston des Originaltextes und versetzt die altbekannte Geschichte der Jeanne d’Arc in ein neues, aktuelleres Setting.
Annika