Plastiktüte nicht vergessen: Ein Theaterlebenslauf

Unser Autor hat fürs Theater schon Konfetti ausgestanzt und empörte Leserbriefe verfasst. Protokoll einer Arbeit am ursprünglichen Zauber.

Unser Autor hat fürs Theater schon Konfetti ausgestanzt und empörte Leserbriefe verfasst. Protokoll einer Arbeit am ursprünglichen Zauber.

Vor langer Zeit: Papa baut ein Puppentheater. Zwei Einkaufskisten auf dem Bügelbrett, dazwischen ein Handtuch als Vorhang. Es spielen: Plüschtiere. Das Publikum: Mama.

Vor langer, aber nicht ganz so langer Zeit: Mit Oma und Opa im Zirkus. Mama geht nicht mehr mit, weil sie beim letzten Mal in die Manege geholt wurde und auf einem Esel reiten sollte. Die Löwen sind furchteinflößend. Die Clowns sind toll. Was gibt es Lustigeres als jemanden, der versucht, auf eine Leiter zu steigen, die immer wieder umfällt?

2000: Immer noch Puppentheater, jetzt aber mit richtigem Vorhang aus rotem Stoff und echten Puppen. Das Publikum: Mama, Papa und zwei Nachbarn. Zum Abschluss werfe ich Konfetti ins Publikum, das ich eigenhändig produziert habe: Tagelang habe ich farbiges Papier mit dem Locher bearbeitet. Erkenntnis: Effekte begeistern.

2001: Klassenlehrerin Frau M. hat den folgenreichen Einfall, die Arbeitsgemeinschaft „Laienspiel“ zu eröffnen. Es ist um mich geschehen.

2003: Weihnachtsmärchen im Stadttheater, „Räuber Hotzenplotz“. Plötzlich ein Stromausfall, 600 Kinder sitzen im Dunkeln. Nach kurzer Pause spielt das Ensemble mit Taschenlampen weiter. Erkenntnis: Für Theater braucht es nicht mehr als Menschen und ein bisschen Licht.

Lebensrolle Baum

2005: In der Theatergruppe am Gymnasium. Die Rolle meines Lebens: Ein Baum. (Mitschülerin J. muss noch heute darüber lachen.)

2007: Deutschlehrerin Frau R. leitet eine Arbeitsgemeinschaft „Improvisationstheater“. In einer Aufführung sehe ich eine Nonne in einem Bierfass. Das will ich auch!

2008: Mein erster Auftritt mit Frau R.s Impro-Gruppe. Irgendwas mit einer Leiche.

2008: Schulausflug zu „Nathan der Weise“. Ich kapiere nichts. Keine roten Plüschsessel, sondern Plastikstühle. Sehr enttäuschend.

2008: „Macbeth“. Viel Blut, nackte Schauspieler, ein abgeschlagener Kopf, mit dem Fußball gespielt wird. Zwei Gedanken: 1. Huch! 2. Hä?!?

2010: Eine Aufführung erboßt mich über die Maßen. Ich gehe vorzeitig. (Dummerweise kann man die Saaltür nicht zuschlagen – da ist so ein Bremsmechanismus drin. Arrrrrrrgh!) Ich koche. Ich schreibe einen Leserbrief. Die Lokalzeitung druckt den Leserbrief.

2011: Ein Schauspieler auf der Bühne setzt eine Perücke falsch herum auf – die Haare hängen vorm Gesicht. Viele im Publikum finden das irgendwie witzig. Nicht so die Unbekannte in der Reihe hinter mir und ich – wir finden das SEHR SEHR witzig (noch lustiger als den Clown auf der Leiter) und stecken uns gegenseitig mit unserem Lachen an. Irgendwann beginnen Leute, sich nach uns umzudrehen.

Sehr blutig, sehr berühmt, hier aber nicht gemeint: Jürgen Goschs Düsseldorfer „Macbeth“ von 2005. Foto (c) Sonja Rothweiler

2012: Meine letzte Schultheateraufführung. „Ein Sommernachtstraum“ – was sonst?

2013: FSJ am Theater. Ich verliere die Nerven, weil ich seit Wochen 12 Stunden pro Tag arbeite (bei 320 Euro Monatslohn). Antwort der Bühnenbildnerin: „Ich war mal Assistentin in X. Da habe ich jeden Tag 14 Stunden gearbeitet.“ Vielen Dank!

2014: In diesem Jahr sehe ich 39 Aufführungen. Gegen die Theatertreffen-Jury ist das nix.

2016: Ich schaue mir mal wieder ein Weihnachtsmärchen an. Es ist wie früher! Warum benutzt eigentlich niemand sonst diese schönen roten Vorhänge?

2016, vier Tage später: In der Oper sitzt neben mir eine ältere Dame aus einer britischen Reisegruppe. Als sich Lucia di Lammermoor zum gefühlt-einmal-zu-vielten Male verbeugt, schaut mich die Dame erschrocken an: „Oh, noooooooo! Not again!“ Erkenntnis: Andere Länder, andere Applaussitten.

…und manchmal ist alles wie früher

2018: Ich sehe zum ersten Mal die „Rocky Horror Show“ und bin schockiert. Außer mir kann fast das gesamte Publikum den Text auswendig und rastet aus. Dass das Ensemble ziemlich schlecht singt und die Inszenierung biederer ist als der Filmmittwoch im Ersten, scheint hier niemanden zu interessieren.

2018: Es plätschert im Parkett. Jemand ganz in der Nähe muss sich übergeben. Fünf Mal! Auf der Bühne geht es ohne UnterBRECHung weiter. Erkenntnis: Immer eine Plastiktüte mitnehmen!

2019: Ich lese den Leserbrief von 2010 noch einmal. Hilfe, ist der peinlich!

2019: Eine erschütternd lieblose Routine-Inszenierung in einem renommierten Haus. Zwei Gedanken: 1. Huch! 2. Hä?!?

2019, ein Tag später: Eine berührend liebevolle Ausnahme-Inszenierung in einem nicht ganz so renommierten Haus. Erkenntnis: Im Gesicht einer Schauspielerin kann die ganze Welt zu sehen sein.

–––

Julien Reimer

Nach einem FSJ Kultur am Theater in Stendal studierte Julien Reimer Germanistik und Hörfunk in Leipzig und Zürich. Bei mephisto 97.6, dem Lokalradio der Universität Leipzig, absolvierte er eine Radioausbildung und leitete die Theaterredaktion. Seit 2016 ist er freier Mitarbeiter bei MDR Kultur.

Alle Artikel