Sebastian Hartmann: „Nichts Menschliches ist mir fremd.“

Sebastian Hartmanns Inszenierungen polarisieren. Auch beim Theatertreffen hatte sein Dresdner Dostojewski-Abend viele Gegner. Wir sprachen mit ihm über den Regisseur als Mitarbeiter seiner Schauspieler - und warum Theater ihm oft wie deutscher Film mit deutschen Untertiteln vorkommt.

Sebastian Hartmanns Inszenierungen polarisieren. Auch beim Theatertreffen hatte sein Dresdner Dostojewski-Abend viele Gegner. Wir sprachen mit ihm über den Regisseur als Mitarbeiter seiner Schauspieler – und warum Theater ihm oft wie deutscher Film mit deutschen Untertiteln vorkommt.

TT-Blog: Sebastian Hartmann, gibt es eine russische Seele? In „Erniedrigte und Beleidigte“ wird sie ja kurz anzitiert…

Sebastian Hartmann: Ich denke, es gibt Seelen und ob die dann Russisch sprechen oder Englisch oder Thai oder Sächsisch… Ich denke, dass wir Menschen alle gemeinsam eine Seele haben. Aber wenn Sie darauf anspielen, ob es eine Eigenständigkeit, ein eigenes Denken innerhalb einer Sprache gibt: Natürlich! Und das ist auch nicht zu übersetzen. Ich finde es auch ehrlich gesagt immer ein bisschen schwierig, wenn ich Tschechow-Inszenierungen sehe, die weltweit immer mit leicht larmoyanten Menschen in Leinenanzügen dargestellt werden, egal ob sie schwarz, weiß, grün oder gelb sind. Das langweilt mich persönlich sehr. Insofern bin ich gar nicht derjenige, der so eine Seele sucht oder verfolgt, sondern eher, sich von dem Literaten inspirieren lässt.

Sie haben Dostojewski 2015 in Frankfurt inszeniert. Tschechow haben sie in Leipzig 2009 auf die Bühne gebracht, genauso wie Tolstois „Krieg und Frieden“ – eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2013. Da gibt es ja schon ein Interesse an russischen Autoren bei Ihnen, oder?

Weiß ich nicht. Das sind vier Inszenierungen, aber ich habe knapp 100 gemacht. Das sind eher so Momente. Ich bin letztes Jahr 50 geworden und mit Mitte 40 habe ich nochmal ein anderes Interesse entwickelt für den Dostojewski als als jüngerer Regisseur. Als ich vor 20 Jahren angefangen habe, begann sich gerade die ganze Liberalität Bahn zu brechen, die uns jetzt anfängt zu ersticken in unserem ganzen Weltgebäude und uns auch nahezu unmündig macht gegenüber dem, was wir mal Demokratie genannt haben – in unserem Selbstverständnis, was wir tun können. Und damals wollten wir natürlich dagegen aufbegehren und jetzt hat sich das ein Stück weit auf das Menschsein gerichtet. Ich bin nicht mehr so nervös gegenüber Institutionen, weil ich die eher von einem menschlichen Aspekt… Der Spruch heißt: Nichts Menschliches ist mir fremd.

Was nach meiner Wahrnehmung Dostojewski und Sie verbindet, ist ein Interesse an Affekten, Gefühlsausbrüchen, Emotionsexplosionen. Würden Sie dem zustimmen?

Heißt das nicht Leben?

In anderen Inszenierungen sieht man das seltener…

Ich sehe das oft im Theater, dass die Leute ein gewisses Gefühl haben und mit dem Gefühl umgehen – mal laut, mal leise. Das ist ja nicht nur eine Frage von einem Affekt oder einer Explosion, sondern da muss man immer den jeweiligen Stoff untersuchen. Bei Dostojewski weiß ich nicht genau… Jemand, der vor diesem Roman „Erniedrigte und Beleidigte“ Epilepsie diagnostiziert bekommen hat, spielsüchtig war, permanent krank, alkoholsüchtig – da jetzt mit der Ruhe einer Jelinekschen Sprache dranzugehen, das wäre vielleicht für die Bühne nicht so interessant. Wenn Sie darauf hinauswollen, ob mir das persönlich gefällt: Das weiß ich gar nicht. Theatermachen ist ja eine soziale Plastik, da sind viele Menschen mit am Start, die ein Temperament teilen, die eine Auffassung von Welt teilen, die sich einen Zugriff auf einen Stoff gegenseitig wahrhaftig machen. (Pause) Ja, ich bin vielleicht nicht der langweiligste Mensch.

Hocherregt: Sebastian Hartmanns „Erniedrigte und Beleidigte“ beim Theatertreffen. Foto (c) Sebastian Hoppe

Sie haben eine wiedererkennbare Handschrift und trotzdem hat Joachim Klement, der Dresdner Intendant, bei der Preisverleihung für „Erniedrigte und Beleidigte“ gesagt, dass Sie die Spielenden befreit haben. Welche Rolle spielen die einzelne Schauspielerin, der einzelne Schauspieler im Gebilde der Inszenierung?

Erstmal ist es so, dass ich gar nicht inszenieren kann. Das beherrsche ich nicht. Denn inszenieren bedeutet ja, eine Textfassung, die von jemand anderem gemacht worden ist, in ein Arrangement und in ein 3D-Gefühl zu bringen. Das ist für mich nicht der Arbeitsvorgang, sondern für mich geht es immer erstmal darum, gemeinsam mit den Schauspielern einen Text oder einen Roman oder eine Vorlage zu verstehen, sodass wir alle gemeinsam in die Fähigkeit kommen, das spielbar zu machen. Es gibt ganz unterschiedliche Wege, da hin zu kommen. Der eine Schauspieler braucht da eine Hilfe, der andere muss radikal frei gelassen werden, um dann moderiert zu werden, indem man beschreibt, was er da gerade spielt, wie das wirkt. Am Anfang sage ich da immer noch relativ viel und versuche, die Leute in einem inhaltlichen Blick auf den Stoff zu begleiten. Ab dem Augenblick, wenn sie anfangen zu spielen, ziehe ich mich immer weiter zurück und beschreibe dann Atmosphären, den bestimmten Gestus einer Szene, einen Moment, der mir gefallen hat, oder Momente, die mir nicht gefallen haben, und stelle das eher zur Disposition, als zu sagen: „Das lass mal weg und das mach dafür noch doller.“ Ich kann mich auch noch erinnern, dass man früher nahezu vom Reißbrett inszeniert hat. Inzwischen ist das freiere, das moderierte Spiel wesentlich interessanter für mich geworden als die Ansage: „Geh jetzt mal dort hin und spring mal auf den Tisch und spring wieder runter und schrei dabei laut.“

Das scheint ja aber eine verbreitete Regiepraxis zu sein. Wie ist das für Schauspielerinnen und Schauspieler, die zum ersten Mal mit Ihnen zusammenarbeiten?

Das müssten Sie die Schauspieler fragen. Es gibt durchaus Menschen, die von einer gewissen Freiheit überfordert sind in unserer Gegenwart. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass Schauspieler so etwas durchaus sehr schätzen, sich gemeinsam mit diesem kleinen Gott, der da unten sitzt und glaubt, alles zu wissen, Gedanken zu machen anstatt in einer Befehlskette drin zu sein.

Skandalisierte Hartmann-Inszenierung aus der Vorsaison: „In Stanniolpapier“ am Deutschen Theater Berlin. Foto (c) Arno Declair

Eine Besonderheit des Abends ist ja, dass er nicht immer gleich ist. Können Sie beschreiben, wie es dazu kommt, dass dieser Abend so ist, wie wir ihn sehen?

Das weiß ich ehrlichgesagt auch nicht. Ich bin da selber immer sehr erstaunt. Das eine nennt man ja Vereinbarungstheater, wo ein Satz auf den anderen folgt, eine geschriebene Fassung erarbeitet wird und ein Szenenfahrplan da ist, der ein gewisses rhythmisches Gerüst hat. In unserer Methode ist es so, dass das Spiel oft schneller ist als beim Vereinbarungstheater, wesentlich poetischer, unruhiger und pulsierender. Klar, ich höre auch gerne mal eine CD oder Platte, aber ich gehe auch gerne ins Konzerte und sehe die Leute Musik spielen. Der Maler, mit dem ich oft zusammenarbeite, Tilo Baumgärtel, der holt mich manchmal in sein Atelier, wenn er bei einem Bild nicht weiterkommt und dann reden wir darüber und dann gucke ich ihm beim Malen zu – das ist schön. Oder Freunde, die Musikinstrumente beherrschen – dabei zuzugucken, wenn sie etwas komponieren. Und das mag ich bei den Schauspielern auch. Weil ich auf den Proben oft erlebt habe, wie außergewöhnlich das ist, wenn ein Schauspieler das erste Mal etwas spielt. Das ist nahezu magisch. Wenn er es wiederholt, ist es die Kunst seines Handwerks. Das ist auch das bürgerliche Verständnis von Theater. Die meisten, die so einen Abend nur einmal sehen, wissen ja gar nicht, dass er am nächsten Abend schon wieder total anders ist. Sie denken, das ist eine Masche. Es gibt auch bei uns durchaus Punkte, die immer wieder einmal angelaufen werden, also bestimmte Szenen könnte man wiedersehen. Zum Beispiel die Szene mit der Badewanne, die ist ungefähr so, aber wie die gespielt wird: Das ist für mich ein großes Geheimnis. Ich beobachte das mit einer großen Freude.

Der Text, den man hört, ist ja original Dostojewski. Insofern ist das ja ein ganz texttreuer Abend. Der Text ist also fest und gleichzeitig in Bausteinen…

Die haben wir uns alle erarbeitet. Ich habe irgendwann den Schauspielern vorgeschlagen, sich ein bisschen mehr mit den Figuren auseinanderzusetzen. Und dann haben die angefangen, in den Texten zu suchen und das ist dann moderiert, dass ich sage: „Vielleicht davon mehr oder weniger.“ Aber ich setze da keine Punkte und Kommas. Ich glaube auch eher an die Temperatur von Spiel, an die Bewegung, als an die Form des Alleine-Sprechens und daran, dann das zu spielen, was man gerade gesagt hat. Das ist ein bisschen wie deutscher Film mit deutschen Untertiteln, was ich manchmal im Theater sehe.

Der Text von Wolfram Lotz suggeriert ja in seiner Poetikvorlesung ein starkes Wissen darüber, wie Theater zu sein hat. Fordert Sie das heraus, wenn jemand das so genau weiß?

Ich habe gar nicht diesen Eindruck. Ich finde eher, dass das ein sehr fragender und unruhiger Text ist, der sich quer in den Mainstream setzt und sich selber auch unterläuft. Ich finde den einen sehr humorvollen und doch auch sehr traurigen Menschen. Von dem ist noch eine ganze Menge zu erwarten, von diesem jungen Mann.

Die Fragen stellte Julien Reimer.

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Julien Reimer

Nach einem FSJ Kultur am Theater in Stendal studierte Julien Reimer Germanistik und Hörfunk in Leipzig und Zürich. Bei mephisto 97.6, dem Lokalradio der Universität Leipzig, absolvierte er eine Radioausbildung und leitete die Theaterredaktion. Seit 2016 ist er freier Mitarbeiter bei MDR Kultur.

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