Wenn wir schon mit Katastrophen leben müssen, dann wollen wir sie auch überleben. Survival-Kits gibt es normalerweise aber nur in Apotheken, nicht im Theater.
Irgendwann in Karin Beiers „Das Werk / Im Bus / Ein Sturz“, der Eröffnungsinszenierung des Kölner Schauspiels beim Theatertreffen, blicken sich die Massen in die Augen: auf der Bühne ein stampfender und gurgelnder Protestchor von mehr als 50 Stimmen; auf der anderen Seite das zum Schweigen verdammte Publikum, das im realen Leben so viel über unsere Gegenwart zu sagen hat. Nun reden sich stellvertretend die Menschen auf der Bühne um ihre Existenz, und am Ende, wenn die Staumauer für das Wasserkraftwerk in den Kapruner Alpen errichtet ist und Hunderte Zwangsarbeiter gestorben sind („Das Werk“), der Bus versenkt ist und der Busfahrer und zwei Passagiere ihr Leben lassen musssten („Im Bus“), und das Kölner Stadtarchiv überflutet ist und zwei Anwohner umgekommen sind („Ein Sturz“), steht Wort gegen Wort, Schuld gegen Schuld. Laute gegen stumme Anklage: Wasser gegen Erde, Natur gegen Mensch.
Halt. Stopp. Eigentlich wollen wir doch gar nicht mehr reden. Eigentlich wollen wir nur wissen, was wir tun können, damit uns die Katastrophen, die natürlichen und übernatürlichen, in Zukunft in Ruhe lassen. Denn es reicht nicht aus, die eigene Schuld zu kennen. Es reicht auch nicht, sie einzugestehen. Bei einem Theaterabend wie diesem, der so vielschichtig Arbeit und menschliches Tun verhandelt, muss man auch fragen, inwieweit er uns zum Handeln ermächtigt.
Karin Beiers Menschen tun auf der Bühne ganz viel. Die Heidis kuscheln mit Geissenpeter, schichten Beton, beweinen Tote und dosieren das wertvolle Wasser am Anfang nachhaltig Tröpfchen für Tröpfchen. Sie versuchen Pfusch zu vertuschen und Bauten zu retten und setzen dabei innere und äussere Naturgewalten frei. Vor allem aber reden sie. Doch Jelineks Sprache ist der große Feind des Handelns: Sie verschleiert die wahren Täter und ist zugleich selbst einer, weil sie es unmöglich macht, „Ich“ zu sagen. Stattdessen bleiben die Menschen in einem ständig changierenden diffusen „Wir“ hängen, das sich von multiplen Heidis zum Chor der Zwangsarbeiter zur orgiastischen (Erd-)Masse bis zu den verantwortungsblinden und am Ende triefend nassen Funktionären des Politsystems morpht. Wer nicht Herr im Haus seiner eigenen Rede ist, kann auch keine Verantwortung tragen, auch wenn die Reden, wie immer an diesem Abend, wortgewaltig sind. Es ist eine Klaviatur der Schuld, auf der die Inszenierung mit allen Mitteln des Theaters spielt, mal allwissend, mal unwissend, mal zynisch, mal karnevalesk, mal größenwahnsinnig, mal hilflos wie jaulende Kätzchen, die ums Überleben flehen.
Der Abend endet als Mahnmal. Aber: Soweit waren wir schon vorher. Wenn gebildete, aufgeklärte Menschen – das durchschnittliche Theaterpublikum – im Zuschauerraum sitzen, dann wissen sie um um ihren Hochmut gegenüber der Natur und um ihre Technikhörigkeit. Sie kennen die Anklage. Weiter trägt der Abend von Karin Beier nicht. Theater offenbart sich, bei aller Virtuosität seiner Mittel, als machtlos. Nicht nur der Mensch, auch das Theater ist den Katastrophen nicht gewachsen.