Das 55. Berliner Theatertreffen endet mit zwei Aufführungen des Joachim-Meyerhoff-Soloabends „Die Welt im Rücken“ nach dem Roman von Thomas Melle. Anlass auch für unsere Autorin, einmal ganz außer sich zu geraten.
Vorbemerkung: Als die Anfrage vom Theatertreffen-Blog kam, anlässlich der Einladung von „Die Welt im Rücken“ einen Text zum Thema „Krankheit auf der Bühne“ zu verfassen, begab sich die Verfasserin in einem Anfall von intellektuellem Ehrgeiz schnurstracks in die Bibliothek und bestellte sich eintausendsechshundertundzwei Titel zur Durchsicht, um sich gewissenhaft in die Materie einzuarbeiten. Sie hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Leser*in durch ihr angehäuftes Wissen zu beeindrucken. Leider setzten, je länger, je mehr sie las, bei der Verfasserin geistige Umnachtungszustände ein, die zu diversen Abspaltungen führten und sie vollends verwirrt zurückließen. Überliefert sind daher nur ihre Gedankensplitter zum eigentlichen Auftrag. Zuletzt hieß es, sie habe sich einer Theatergruppe angeschlossen.
I. Es heißt immer, die Welt sei eine Bühne. Andersherum will jedoch auch die Bühne die ganze Welt sein. Das ist unser Theaterverständnis. Wenn wir jedoch behaupten, dass die Welt krank ist, dann wäre die Bühne, die die Welt sein will, ein Ort diese Krankheiten zu verhandeln. Die Bühne wäre dann nicht die Welt, sondern ein Hospital, ein Lazarett, eine Anstalt, ein Therapie- und Schmerzzentrum, eine Reha-Klinik.
II. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass die Bühne eine solche Anstalt ist. Sie wird seit jeher bevölkert von Charakteren, die außer sich sind, außer sich geraten. Närr*innen, Mörder*innen, Ehebrecher*innen, Verräter*innen, Idiot*innen, Intrigant*innen und Liebenden.
III. Michel Foucault beschrieb Anstalten als Disziplinarmaschinen, in denen die Kranken, die mit dem System nicht Konformen, aussortiert werden; in denen die rationale Vernunft ihren unvernünftigen, nicht-rationalen, ir-ren Wesenskern von sich abtrennt und wegsperrt.
IV. Hamlet ist ein solcher Irrer – das Stück der Ur-Text unserer Theatertradition mit der Frage: Ist die Krankheit eine vorgespielte oder ist sie „echt“ und was ist, wenn das überhaupt keinen Unterschied macht? Nur während des „Spiel im Spiel“, wenn auf der Bühne eine Bühne errichtet wird, wenn die eigentlichen Anstaltsinsassen in die Mausefalle tappen, hat Hamlet seinen Wahnsinn abgelegt. Als Regisseur, Autor, Dramaturg und Theoretiker des Theaters spricht er plötzlich wie der größte Normalo. Was darauf hindeuten könnte, dass das Theater aus dem Wahnsinn einen Ausweg bietet.
V. Dass das Theater „kontrollierter Wahnsinn“ (Heiner Müller) ist, also die Möglichkeit bereitstellt, dass eine Kultur sich mittels des Theaters mit ihren Grenzerfahrungen auseinandersetzen kann, ist ebenfalls eine gern zitierte Definition.
VI. Leider passiert es in den allerwenigsten Fällen, dass man es im Theater mit einer solchen Grenzerfahrung zu tun bekommt. Schicksal des Theaters ist es vielleicht, auf immer „85% ungenutzte Fläche“ (Christoph Schlingensief) zu bleiben. Beim diesjährigen Theatertreffen war jedoch hier eine leichte Verbesserung zu verzeichnen, der errechnete Anteil lag zwischen 70%-80%.
VII. Aber auch diese Diagnose, dass das Theater krank oder vielmehr an sich selbst erkrankt ist, gehört mit zum Grundbaukasten des Theaterverständnisses. Was wiederum damit zusammenhängen mag, dass es in unserer Kultur die ausgesprochene Tendenz gibt, dem Kranken die Schuld an seiner Krankheit zuzuschieben und damit den Kranken noch mehr von der Welt zu isolieren, als er es ohnehin schon ist (Susan Sontag sprach von der „Krankheit als Metapher“).
VIII. Die Inszenierung „Die Welt im Rücken“ erzählt nicht nur von Umständen einer Krankheit, der manischen Depression. Sie stellt nicht nur die Tatsache einer Krankheit auf die Bühne. Sie holt ein altes Theaterwort ins Bewusstsein zurück: Die Katharsis – den medizinischen Begriff, der Reinigung meint. Katharsis lebt. Mit Joachim Meyerhoff gehen wir als Zuschauer*innen durch alle Abgründe und Höhenflüge der Krankheit hindurch und werden gleichzeitig von ihr erlöst. Eine Auseinandersetzung mit Grenzerfahrung, wie es im Buch der Utopien steht.
IX. In dem Schauspieler Joachim Meyerhoff fällt Wahnsinn und Genie wahrscheinlich insofern zusammen, als dass es ihm in seiner Biografie durch glückliche Fügungen erlaubt war, Wahnsinn als Normalität zu begreifen (warum, ist in seinen Büchern nachzulesen). Unter diesen Umständen konnte das Genie offenbar erst vollends zum Vorschein kommen.
X. In der Jurybegründung wird von der Inszenierung als „faszinierendem Objekttheater“ (Margarete Affenzeller) gesprochen. Das Gegenteil ist eigentlich der Fall. Der Abend ist radikales Körpertheater. Nur Körper sind Krankheiten ausgesetzt, sind von Krankheiten existenziell betroffen. Alle „Masken des Menschseins“ (Jerzy Grotowski) werden abgelegt und in einem radikalen Akt der Aufrichtigkeit wird die Wahrheit darüber erkennbar, was es bedeutet, als Mensch zu existieren.
XI. Oder, um mit David Foster Wallace zu sprechen, „what it means to be a fucking human being“.