Die Schauspielerin Wiebke Puls war in der Vergangenheit mehrfach Gastautorin beim Theatertreffen-Blog. Hier schreibt sie über das parasitäre Wesen der Theaterkritik, ihre Demütigungen – und warum sie dennoch auf sie hoffen will.
Ein Kritiker behauptete, die Kritik eröffne den Dialog. Ein anderer erklärte mir, die Kritik sei für das Theater unverzichtbar: Ohne sein Lob hätten etliche Künstler*innen keine derartige Karriere hingelegt. Diese beiden Missverständnisse sind exemplarisch für eine Kritik, die ich nicht leiden mag. Denn den Dialog eröffnet die Kunst. Der Kritiker, oft im Verdacht, selbst ein verkrachter Künstler zu sein, ist ein Parasit. Ohne das Werk der Künstler*innen hätte seine Arbeit keine Grundlage. Kritik alter Schule ist der Inbegriff patriarchalischer Struktur: Erst einmal die anderen arbeiten lassen. Dann teilen und herrschen, erheben und vernichten.
Die Kritik ist die Marie Antoinette des Theaters
Ich habe Kritiker*innen jammern hören, wie beschwerlich es sei, über Nacht pointiert (Fehl-)Leistungen beschreiben zu müssen, die tatsächlich der Rede nicht wert seien. Leider hat diese Generation stilistisch gerade in den fiesesten Verrissen die herrlichsten Blüten getrieben; so manchen Text der alten Meister unter den literarischen Eintags-Aasfliegen habe ich mit morbidem Genuss gelesen. Die Kritik ist die Marie Antoinette des Theaters. Eine scharfzüngig hingerotzte Überheblichkeit kann Künstler*innen über Monate tränenblind die Scherben ihres Egos vom Boden klauben lassen. Der alten Garde, die mich nach monatelangen Proben oft mit nur einem Adjektiv aburteilt, während ich nicht mal ihr Gesicht kenne, begegne ich deshalb in der Regel mit Misstrauen.
Bücklingsolympiade der Intendant*innen
Zugegeben, mancher Austausch entpuppte sich dann doch als bereichernd. Das Gespräch mit einer* gebildeten, neugierigen Kritiker*in kann sehr beglückend sein und es war mir eine Ehre, für Magazine und Blogs schreiben zu dürfen. Selten jedoch sah ich eine Bücklingsolympiade wie die der Intendanz vor der Kritik. Ich habe die aufrechtesten Intendanten im Rekordtempo sich zu Liebedienern der Kritik verkrümmen sehen. Nie werde ich vergessen, wie einer von ihnen mit Blick auf die Schauspielerin, die den betrunkenen Kritiker während der Premierenfeier hostessenhaft bei Laune hielt, zufrieden raunte: „Sie macht einen guten Job.“ In den ersten 15 Jahren meiner Berufstätigkeit habe ich die Macht der Kritik als eine demütigende Selbstverständlichkeit hingenommen, wie die Hand des Regisseurs unter meinem Hemd.
Die Einbettung von Apparat, Werk und Betrachtung in den gesellschaftlichen Kontext ist nicht mehr wegzudenken; diese Kritik ist ein Ort der Auseinandersetzung und verknüpft das Meta-Theater mit der Realität. Sie ist assoziierter Teil des Theaters.
Zum Glück ändern sich nun die Verhältnisse. Und das verdanken wir auch einer neuen Generation Kritiker*innen, die schon vor Jahren einen vielbeachteten Versuch begonnen hat, ihren Beitrag zu leisten. Sie definiert Demut anders, nämlich als die ihre, aktive, befriedigende, in Folge interessierter Zuwendung. Nachtkritik.de, Features wie dem „Theaterpodcast“ und Blogs wie diesem ist es zu verdanken, dass ein offen partizipativer Diskurs stattfindet. Das hat mitunter zu Experimenten geführt, die mir absurd vorkamen, wie zum Beispiel Live-Kritiken im Chatformat. Aber eben auch dazu, dass die gesellschaftlichen Prozesse im Theater selbst öffentlich gemacht werden. Unter den veränderten Druckverhältnissen der Pandemie beginnt die heftig brodelnde, hierarchische Struktursuppe der Theater überzukochen.
Vermittler des Erlebnisses
Ich erlebe die genannten kritischen Organe derzeit vor allem als soziokulturelle Chronist*innen. Die Einbettung von Apparat, Werk und Betrachtung in den gesellschaftlichen Kontext ist nicht mehr wegzudenken; diese Kritik ist ein Ort der Auseinandersetzung und verknüpft das Meta-Theater mit der Realität. Sie ist assoziierter Teil des Theaters. Das rechne ich ihr hoch an, und darum möchte ich ihr zurufen: Lasst uns gerade jetzt nicht allein! Seid Zeug*innen des Wandels, der sich hier vollzieht! Seid unsere Partner*innen darin! Und noch mehr: Ermutigt uns, in aller politischen Nüchternheit Künstler*innen zu bleiben. Bleibt unserer Kunst treu. Würdigt ihre gesellschaftliche Wichtigkeit und Gestaltungskraft mit genauester Betrachtung und Beschreibung. Ich danke der Kritik, die sich als Vermittler eines Erlebnisses, weniger als sein Juror sieht. Lasst uns gemeinsam neue Sprachen lernen.