Das richtige Theater im falschen Leben

Mit She She Pop gewann in diesem Jahr erstmals ein feministisches Performance-Kollektiv den Berliner Theaterpreis. Ihre eingeladene Arbeit "Oratorium" zeigt die Stadt als Beute und sucht den Schulterschluss mit dem Publikum.

Mit She She Pop gewann in diesem Jahr erstmals ein feministisches Performance-Kollektiv den Berliner Theaterpreis. Ihre eingeladene Arbeit „Oratorium“ zeigt die Stadt als Beute und sucht den Schulterschluss mit dem Publikum.

Ein Spiel aus Einigkeit, Uneinigkeit, Zugehörigkeit und Nicht-zugehörig-sein-Wollen entfaltet sich zu Trompeten- und Vibraphontönen. Die Mitspielenden sind alle Anwesenden. Zuschauer*innen sind immer nur jene, die gerade nicht am Zug sind und beobachten, was die Anderen tun beziehungsweise sagen, bevor sie selbst wieder an der Reihe sind.

Wer sind die, wer sind die Anderen, wer ist wir? Das ist die Frage (nicht nur an diesem Abend) und sie wird in She She Pops „Oratorium“ immer wieder neu verhandelt und verteilt. Für mich sind die mal die jungen Männer ohne festes Arbeitsverhältnis, mal die gebürtigen Berliner*innen, dann die Wohnungseigentümer*innen, Eingewanderten oder alleinerziehende Mütter in prekären Verhältnissen, wir die Klassenkämpfer*innen, die, die das Herz am richtigen Fleck haben, die Theaterwissenschaftler*innen, unter Anderem. Es gibt zudem ein die, bestehend aus denen auf der Bühne, und das wir derer im Zuschauerraum, wobei diese Grenze durchbrochen wird, als der Chor der Erb*innen aus dem Zuschauerraum zu den Erb*innen auf der Bühne tritt und später erneut in einem Sprech-Ping-Pong zwischen dem Chor der lokalen Delegierten und Mitgliedern von She She Pop und dem Chor aller aus dem Zuschauerraum, bei dem abwechselnd in halben Sätzen ein gemeinsamer Text gesprochen wird.

„Diese Geschichte kennen wir!“ Foto (c) Benjamin Krieg

Das chorische Sprechen nach Brechts Lehrstücktheorie steht im Zentrum dieses Abends, Einzelstimmen hört man nur gelegentlich. Manchmal sind das Konrad Adenauer, Helmut Kohl, Karl Marx, oder Die Deutsche Wohnen. Einen sehenswerten Soloauftritt legt unterdessen das schlechte Gewissen der Erb*innen und Eigentümer*innen hin. Es schleicht sich zunächst schüchtern aus der Gruppe hervor, tanzt sich dann selbstbewusst in der Mitte des Bühnenbodens frei, begibt sich virtuos in einen Spagat – bis es dem Chor der Eigentümer*innen und Erb*innen nach mehrmaligem Auffordern gelingt, es zu vertreiben. Das schlechte Gewissen ist maskiert und löst sofort Assoziationen an einige Wesen aus dem Anime Prinzessin Mononoke (1997) von Hayao Miyazaki aus, in dem unter anderem die Umweltzerstörung und Fragen nach der Koexistenz von Mensch und Natur thematisiert werden — sicherlich kein Zufall.

Auch sonst ist viel Bewegung auf der Bühne, die mit sehr wenig Ausstattung daherkommt. Lediglich unterschiedlich gestaltete Fahnen bestimmen die Szenerie. Auf einer ist eine Überwachsungskamera zu sehen, eine andere besteht aus mehreren flach aneinander genähten Hemden (vielleicht die letzten Hemden einiger schlechter Gestellter im Haifischbecken der Miethaie), eine aus glänzendem, weißem Stoff mit Rüschen an den Enden, die an manche Vorhänge älterer Menschen erinnern. Wieder eine trägt ein Symbol des Anarchismus. Die Fahnen werden immer wieder zu Kostümen transformiert. Die Spielenden schlüpfen hinein und wieder raus, zeigen einen Fahnentanz im Chor, imitieren einander.

„Etwas ist falsch, aber normal.“

Es ist sowohl der richtige Ort – hier, in dieser Stadt, die gerade Beute wird – als auch die richtige Zeit, dieses experimentelle Spiel mit der Öffentlichkeit zu wagen. Es sind die richtigen Inhalte — Geld, Eigentum, Privilegien, Macht, Werte, Gemeinschaft, Erwartungshaltungen des Theaterpublikums — die verhandelt werden. Es sind die richtigen Fragen, die in unserem Hier und Jetzt der Wohnungsnot, explodierenden Mieten, befristeten Arbeitsverhältnisse und ausschließender, sich nach rechts bewegender Gesellschaftsstrukturen gestellt werden. Und es ist die richtige Art, sie zu stellen: Mit viel Humor, niemals selbstgerecht und ohne vorwurfsvollen Unterton. Kurzum: Es ist die richtige Form, Theater zu machen (im Kollektiv, gleichberechtigt, enthierarchisiert). She She Pops „Oratorium“ ist eine gemeinsame Erfahrung. Und es wird etwas sehr Wichtiges klar an diesem Abend: Das „die“ und das „wir“ sind nichts Fixierbares. Jede*r spricht, wird angesprochen und ist mehrfach mitgemeint.

Am Ende des Abends liegen die Fahnen auf dem Boden, zwischen und neben ihnen stehen die Performer*innen. Es wird dunkel und man hört ein letztes Mal einen Chor: Das Summen aller, das uns vereint verabschiedet.

Oratorium
Kollektive Andacht zu einem wohlgehüteten Geheimnis
von She She Pop

Von und mit: She She Pop (Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Berit Stumpf) sowie dem Chor der lokalen Delegierten: Susanne Scholl, Saioa Alvarez Ruiz, Brigitte Cuvelier, Jean Chaize, Wenke Seemann, Antonio Cerezo, Jan Sobolewski

Bühne: Sandra Fox, Kostüme: Lea Søvsø, Musikalische Leitung: Max Knoth, Trompete: Richard Koch, Vibraphon: Karl Ivar Refseth, Künstlerische Mitarbeit: Ruschka Steininger, Dramaturgische Mitarbeit: Peggy Maedler, Annett Gröschner

https://www.hebbel-am-ufer.de/

–––

Dilan Zuhal Capan

Freischaffende Nachwuchs-Autorin / Künstlerin in Berlin. Hauptdisziplinen: (visuelle) Lyrik, szenische & bildende Künste, Essayistik. Aktuell außerdem: Studentin der Theaterwissenschaft / Philosophie & Regieassistentin.

Alle Artikel