Die Premierenkritik: Don't stop me now!

In „Before Your Very Eyes“ schickt das Performancekollektiv Gob Squad sieben Kinder durch ein Leben im Schnelldurchlauf. Kinder auf der Bühne sind meist süß und sehr gefällig, diese hier aber stellen das Älterwerden und das Leben der Erwachsenen grundsätzlich in Frage. Im Gegensatz zu Pippi Langstrumpf werden sie dabei ernst genommen.

Sieben Kinder im Fast-Forward-Modus. Foto: Phile Deprez

„Hi kids. How are you?“

Sie sind gut drauf, die sieben Kids aus Gent, die Gob Squad dem Publikum mitgebracht hat. Und wie! Vom Publikum getrennt durch eine einseitig blickdichte Spiegelwand, toben sich die jungen Darsteller in einem Kinderzimmer so richtig aus.

Es ist im besten Sinne ein „Spiel“-Zimmer. Die Spiegelwand hat wohl teils die Wirkung, dass die jungen Darsteller mehr „für sich“ denn für das Publikum spielen, andererseits ist die Box nach oben hin offen und so können die Reaktionen des Publikums von den Darstellern zumindest gehört werden (vor allem hat das Team jetzt eine ganze Reihe von Aufführungen hinter sich, die Behauptung, das Spiel sei „privat“, ist nicht mehr richtig haltbar). Die Spielfreude jedenfalls ist immens, wirklich bemerkenswert ist aber, wie professionell die jungen Darsteller zu Werke gehen. Nicht nur die Verwandlungskunst, sämtlichen Altersstufen ein spezifisches, glaubhaftes Spielprofil zu geben, auch das blitzschnelle Umschalten von Spaß auf Ernst und der lockere Umgang mit der Aufführungssituation (viele gestandene Schauspieler wirken in den ersten Szenen nervöser als diese Rasselbande) beeindruckt sehr.

Martha Balthazar, Spencer Bogaert, Zoë Luca, Faustijn De Ruyck, Gust Hamerlinck, Jeanne Vandekerckhove, Ine Verhaegen. Photo: Phile Deprez

„Everyone’s sitting down and they’re all watching you.“

Dieses An-Schauen wird auf mehreren Ebenen im Stück thematisiert. Zum Einen hat die Spiegelbox etwas von einem Käfig im Zoo. Zum Anderen beobachtet nicht nur das Publikum die Kinder, sie beobachten sich in ihrer Veränderung auch selbst. Zunächst im Spiegel, dann werden sie mit Videos konfrontiert, die von ihnen zu Beginn der Projektarbeit gemacht wurden, also ungefähr vor zwei Jahren. Ihre Vor-Ichs befragen sie darin anfangs zu ihrer heutigen Lebenssituation als Teenager („Wie viele Jungs hast du schon geküsst?“), später, wenn die Jugendlichen sich in ihren 40. Geburtstag oder ihr Sterben hineinversetzen, zu Midlife-Crisis und Lebenssinn. Den erwachsenen Zuschauern, an die diese Fragen ja eigentlich gerichtet sind, wird ein Spiegel vorgehalten und eine Selbstreflexion durch die Befragung der Kinder eingeleitet. Wenn die jungen Darsteller beim Altern vom „ich kann“ oder „ich werde“ zum „ich hätte können“ wechseln, wirkt diese Form vielleicht etwas konstruiert, gleichzeitig sind das die Momente, die am stärksten die Selbstbefragung der Zuschauer triggern.

„Is everybody having a good time?“ Auf jeden Fall! Das Publikum johlt bei den Szenen, in denen die Kinder eine verunglückende Cocktailparty (samt Dialog über guten Wein und Gentrifizierungsdebatte) nachspielen, und verdrückt (gar nicht mal so heimlich) Tränen bei den melancholischen Momenten. Eigentlich sehr bemerkenswert, denn wie lange hat man nicht jemanden im Theater weinen sehen? Die Kids haben sowieso Spaß und schminken und schmeißen sich in die nächste Altersstufe, vom Emo-Punk bis zur tattrigen Hausfrau, tanzen ab und zu zu den Musikeinspielungen und rauchen genüsslich die verbotenen (natürlich Attrappen-)Zigaretten.

Wie werde ich sein, wenn ich 40 bin? Foto: Phile Deprez

„You do know why you’re here, don’t you?“

Das Publikum ist gekommen, um von Kindern etwas über das eigene Leben zu lernen, das ist ganz deutlich. Es liegt der Wunsch in der Luft, heute verändert aus dem Theater zu gehen. Es gibt da diesen Satz „Kinder und Betrunkene sagen immer die Wahrheit“ und es fühlt sich so an, als beinhalte dieses Stück eine ganze Menge „Wahrheit“ über die gegenwärtige Verfasstheit unseres Lebens. Vielleicht liegt es daran, dass die jungen Darsteller Dinge aussprechen können, ohne dass sie allzu pathetisch klingen, sie unschuldige Fragen stellen können, die normalerweise mit einem ironischen Kommentar weggewischt würden, den Selbstschutz der Zuschauer aufbrechen, weil sie selbst keinen haben, in dem sie sich zerbrechlich und jung auf der Bühne exponieren.

„Well, you better start acting your age then.“

Nach diesem Gob Squad-Abend fragt man sich, was das eigentlich ist: „sich dem Alter entsprechend benehmen“. Und warum man das überhaupt tun sollte. Der Alterungskurs der Kids auf der Bühne hat wie eine Verjüngungskur gewirkt.

„You can stop now.“

Schade eigentlich, dass ein Leben im Schnelldurchlauf so kurz ist. Die Zuschauer hätten den Kids (und sich selbst) definitv noch mehr Zeit gegönnt. Aber das eigene Leben, das ist ja glücklicherweise noch lang genug…

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Karl Wolfgang Flender

hochklutur.wordpress.com

Karl Wolfgang Flender, 1986 in Bielefeld geboren, studiert „Literarisches Schreiben" an der Universität Hildesheim. Preisträger beim fm4-Literaturwettbewerb 2011, Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Hat am Forum Junger Theaterkritiker der Wiesbadener Biennale „Neue Stücke aus Europa" 2010 teilgenommen und war Chefredakteur von Festivalzeitung und -blog beim 100°-Festival 2011 am HAU Berlin.

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