Der französische Autor Georges Perec versuchte 1974 drei Tage lang, „einen Platz in Paris zu erfassen“. Er protokollierte Bewegungen von Menschen, Autobussen und einem Taubenschwarm – akribisch genau und mit Sinn fürs Nebensächliche. Unser Autor versucht sich, inspiriert von Perec, an einer Beobachtung in den Foyers des Hauses der Berliner Festspiele während des Eröffnungsabends des Theatertreffens.
Der Tag: 03. Mai 2019.
Die Zeit: Kurz nach 17:00.
Der Ort: Haus der Berliner Festspiele, Eingangsfoyer, Couch gegenüber den Türen.
In der Glasfront des Eingangsfoyers befinden sich zwei Türen. Eine ist geöffnet. Sie ist so breit, dass eine Person durchgehen kann. Darüber der Schriftzug „Ausgang bei Gefahr“. Am Türrahmen ein grünes Notausgangsschild.
Etwas weiter links ein Informationstresen mit einer Mitarbeiterin. Daneben ein Tisch mit circa 50 Programmbüchern des Theatertreffens.
2 Feuerlöscher. Auch rot: Theatertreffen-T-Shirts der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, der Pullover einer Frau, das Band, das die Schlange vor der Kasse ordnet.
Die Kasse befindet sich ganz links. Circa 18 Personen stehen an.
Verteilt im Raum Stehtische.
Eine Frau filmt mit ihrem Smartphone, während sie von rechts nach links läuft.
Die Menschen: Circa 120 sind gleichzeitig zu sehen. Sie zu zählen ist unmöglich, da sie sich unablässig bewegen.
Menschen treten durch die Tür ein. Einige gehen auch wieder hinaus. Es staut sich an der Tür.
Wieder die Frau, die im Gehen mit dem Smartphone filmt. Diesmal läuft sie von links nach rechts.
Was Menschen in den Händen halten: Smartphones, Programmbücher, Brezel, Gläser mit Getränken, Eintrittskarten, Fotoausrüstung, Filmkamera, Turnbeutel, altmodische Ledertasche (Medizintasche?), Schal.
Brillen: Bei circa der Hälfte der Menschen oder mehr.
Es klingelt. Es ist 17:43.
Der Raum füllt sich merklich. Jetzt kommen mehr Menschen durch die Tür als durch sie hinausgehen.
Die Frau neben mir auf der Couch zeigt mir einen kleinen Zettel, wie man ihn in Wartezimmern bekommt. Darauf: „063“. Die Frau erklärt auf Englisch, sie und der Mann neben ihr warteten auf eine Eintrittskarte. Sie kämen aus Amsterdam und seien Simon-Stone-Fans. „Hotel Strindberg“ wäre ihr sechster Simon-Stone-Abend.
Es klingelt. Es ist 17:52.
Es kommt Bewegung in den Raum, er leert sich.
Eine Frau setzt sich direkt neben mich, obwohl die gesamte Couch frei ist. Schweres Parfüm. Sie nutzt ihr Smartphone.
Es klingelt. Es ist 17:55.
Ein Mann mit grüner Fliege grüßt mich. Ich kenne ihn nicht.
Es leert sich immer mehr.
Der Programmbuchstapel leert sich auch. Ein Mann nimmt ein Programmbuch und sagt: „Huhuuuuu“.
Es klingelt. Ein Mitarbeiter mit rotem T-Shirt läutet eine Glocke.
Ein Filmteam ist ohne Eile.
Die Schlange an der Kasse reicht jetzt fast bis zur Tür.
Es ist 18:00.
Matthias Lilienthal.
Es zieht. Ich stelle fest, dass auch die zweite Tür geöffnet wurde.
Auf einem Stehtisch sechs Gläser.
Schon seit einer halben Stunde steht eine Frau in Sichtweite und sucht eine Karte. Das Angebot einer Mitarbeiterin, die Übertragung im oberen Foyer anzusehen, möchte sie nicht wahrnehmen.
Dieselbe Mitarbeiterin schließt eine der Türen.
Ein Mitarbeiter spricht in ein Headset. Er sieht wichtig aus.
Die Schlange an der Kasse ist unverändert lang.
Ein Kellner entfernt die sechs Gläser vom Stehtisch.
Am anderen Ende der Couch sitzt eine Frau mit schwarzer Mütze, reglos, das Smartphone in den Händen.
Die Schlange löst sich auf. Menschen laufen von dort zur Treppe und gehen nach oben – offenbar zur Live-Übertragung der Aufführung.
Es ist 18:08.
Die zwei Personen aus Amsterdam unterhalten sich mit einer Frau.
Fünf Menschen verlassen den Raum.
Hat die Aufführung schon begonnen? Das ist hier draußen nicht zu erkennen.
Applaus ist zu hören.
Die Mitarbeiterin am Informationsstand füllt Programmbücher auf dem Stapel nach.
Ein Teil der Lichter im Eingangsfoyer geht aus, an, aus, an.
Applaus ist zu hören.
Die Mitarbeiterin schließt auch die zweite Eingangstür.
Es befinden sich noch 33 Menschen im Foyer.
Der Kellner geht von rechts nach links.
Die zwei Personen aus Amsterdam gehen.
Der Mitarbeiter mit Headset informiert seine Kollegen über Pausenregelungen.
Der Kellner mit roter Kiste und zwei Bierflaschen.
Ein Mann fragt eine Mitarbeiterin: „Haben Sie ‘ne Idee, wie man noch an Karten kommen kann?“
Es ist 18:20.
Ein Schauspieler im Saal ist zu hören.
Eine Mitarbeiterin sagt: „Ich komme zurück in 20 Minuten.“
Eine Frau und ein Mann mit Kleinkind kommen die Treppe herunter.
Ein Satz aus dem Stück ist verständlich: „Was soll denn das jetzt?“
Das Kleinkind winkt den Mitarbeiterinnen. Sie winken zurück.
Eine Mitarbeiterin sagt: „Jetzt läuft’s. Puh.“
Ein Mann im Trenchcoat telefoniert.
Es sind noch 6 Menschen da.
Es ist 18:27.
Unterbrechung
Die Zeit: 19:14.
Der Ort: Haus der Berliner Festspiele, Foyer rechts, unter der Treppe.
Der Saal im Rücken. Man hört die Aufführung im Innern. Gelächter.
In Blickrichtung: Die Garderobe. 15 Garderobenständer mit je 10 Haken.
Fünf Mitarbeiterinnen mit roten T-Shirts.
Zwei Merchandise-Stände vom Wiener Burgtheater und vom Theater Basel.
Zwei Frauen kommen aus dem Saal und gehen in den Garten.
Eine Frau verlässt die Damentoilette ganz links. Noch eine.
Eine Frau tritt an den Basler Merchandise-Stand und betrachtet die Auslage.
Ein Mann mit Walkie-Talkie rennt von rechts nach links.
Ein Mann und eine Frau kommen mit Pommes aus dem Garten. Sie stehen am Wiener Merchandise-Stand. Jemand sagt zu Ihnen: „Es ist bestimmt bald Pause.“ Die Frau sagt: „Dann müssen wir schnell essen.“
Musik dringt aus dem Saal. Sie wird immer lauter.
Es ist 19:28.
Applaus. Erste Pause.
Menschen verlassen schnellen Schritts den Saal.
Manche gehen nach links zur Damentoilette, die meisten nach rechts.
„Um Gottes Willen“ ist zu hören.
Zwei Frauen ziehen ihre Jacke an.
Menschen sehen sich am Merchandise-Stand um.
Jürgen Trittin.
Es ist 19:31.Die Jacken an der Garderobe bleiben weitestgehend hängen.
Eine Frau mit schwarzen Handschuhen.
Eine Frau bringt zwei Gläser mit Wein. Sie probiert aus beiden und gibt ein Glas einem Mann.
Ein Mann mit blauem Jackett tippt auf seinem Smartphone und blickt nach oben, dann nach vorn.
Vier Menschen sitzen auf Sitzmöbeln in der Nähe.
Eine weitere Frau nimmt auf einem nahen Sitzmöbel Platz.
Der Name Caroline Peters fällt.
Es ist 19:40.
Lange Schlange vor der Damentoilette.
Eine Frau bindet ihren Schuh.
Andrang beim Merchandise.
Ein Mann mit Hut. Bisher der einzige. Er trägt eine Wasserflasche, isst etwas und wischt seinen Mund mit einer Serviette.
Eine Frau verliert zwei Theatertreffen-Sticker und hebt sie wieder auf.
Der Mitarbeiter mit Headset.
Mann und Frau mit Wein und Brezeln nehmen auf den Sitzmöbeln Platz.
Eine Frau sitzt seit Beginn der Pause auf einem grauen Sessel. Während ich das schreibe, steht sie auf.
Eine Frau blickt beim Vorbeigehen verstohlen in den Spiegel.
Es klingelt. Es ist 19:48.
Die Schlange vor der Damentoilette ist kürzer geworden.
Der Mitarbeiter mit Headset.
Der Mann mit dem Walkie-Talkie, wieder schnellen Schritts.
Es klingelt.
Der Mitarbeiter mit Headset.
Der Mann mit dem blauen Jackett.
Die Laufrichtung orientiert sich jetzt mehrheitlich von rechts nach links in den Saal hinein.
Noch eine Frau wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel. Während ich das schreibe, kommt Wolfgang Höbel vom SPIEGEL vorbei. Kein Witz.
Das Foyer leert sich, Menschen strömen in den Saal. Es sieht so aus, als würde das Publikum mehrheitlich zurückkommen. Das spricht für die Aufführung.
Die letzte Sitzende erhebt sich vom Sitzmöbel.
Der Mann mit Walkie-Talkie. Rennt.
Es klingelt. Es ist 19:56.
Ein Mann kann einer Frau geradeso ausweichen. Er schwankt leicht.
Der Mitarbeiter mit Headset.
Die Schritte beschleunigen sich.
Ein Mann nimmt einen sehr großen Schluck aus einer Flasche und stellt sie ab.
Eine Frau schaut gehend auf ihr Smartphone.
Niemand mehr am Merchandise-Stand.
Eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter halten sich an den Saaltüren bereit. Ein Mann mit Kamera filmt, wie sich die Saaltüren schließen. Als die Tür zu ist, wird es schlagartig ruhiger.
Der Mitarbeiter mit Headset kommt aus dem Saal.
Die Frau am Merchandise-Stand isst ihre letzten Pommes.
Ein Kellner (nicht derselbe wie vorhin) holt leere Gläser am Merchandise-Stand ab.
6 Mitarbeiterinnen in roten T-Shirts, sonst niemand.
Der Kellner holt zwei Gläser ab, die Nutzer der Sitzgruppe stehen gelassen haben.
Es ist 20:06.
Der Mitarbeiter mit Headset.
Ein Mann fragt an der Garderobe, ob eine orangefarbene Mütze gefunden wurde.
Aus dem Saal ist Geschrei zu hören. Im Foyer geschieht nichts aufregendes.
Unterbrechung
Die Zeit: 20:52.
Der Ort: Haus der Berliner Festspiele, Oberes Foyer Mitte, zwischen den Türen zum Rang.
Die beiden Saaltüren zum Rang werden von einer Mitarbeiterin und einem Mitarbeiter bewacht. Beide laufen auf und ab.
Vor den Saaltüren steht eine lange Reihe grauer Sessel. Auf einem sitzt ein Mann im grauen Anzug, der auf sein Smartphone schaut.
Im Saal ist laute Musik zu hören.
Die erste Person verlässt den Saal.
Applaus. Zweite Pause.
Das Foyer-Licht wird heller.
Ein Mann kommt aus dem Saal und rennt zur Bar.
Menschen strömen aus den Saaltüren, viele haben ein Lächeln auf dem Gesicht.
Ein Mann setzt sich auf die Treppe zwischen den Saaltüren.
Es ist 21:05.
Zahlreiche Menschen nehmen auf den grauen Sesseln Platz.
Ein Mann sagt: „Ich überlege ernsthaft, ob ich mir den dritten Teil noch anschaue. Frühe habe ich mir solche Sachen angeguckt…“ Die Frau neben ihm: „Die spielen ja teilweise wirklich brillant.“
Inzwischen sitzen 7 Menschen auf der Treppe. Die Zahl erhöht sich bis 21:15 auf 12.
Es ist 21:20. Es klingelt.
Es sitzen noch 9 Menschen auf der Treppe.
Es klingelt.
Es sitzen noch 4 Menschen auf der Treppe.
Merkliche Bewegung zu den Saaltüren.
Es klingelt.
Es sitzen noch 2 Menschen auf der Treppe.
Das Licht wird wieder gedimmt. Die Saaltüren sind noch geöffnet.
An den Stehtischen der Bornemann-Bar haben sich viele leere Gläser angesammelt. Ein Kellner beginnt, sie wegzuräumen.
Die Saaltüren werden geschlossen.
Es ist 21:30.
Eine Kellnerin trägt eine silberne Platte mit Käse und Weintrauben auf der Schulter von rechts nach links zur Bornemann-Bar. Ihr folgt ein Kellner mit zwei Platten mit Spießchen, die mit Frischhaltefolie abgedeckt sind. Es folgen: Schlachteplatte, Salatschüssel, Salatschüssel. Die Trägerinnen und Träger kehren nach dem Ablegen der Speisen dahin zurück, wo sie hergekommen sind.
Es ist 21:35.
Aus dem Saal dringt Musik.
Ein Mann mit Tablet und Mikro setzt sich auf die Treppe. Tontechniker?
Der Mitarbeiter mit Headset.
Salatschüssel von rechts nach links.
Unterbrechung
Die Zeit: 22:19.
Der Ort: Haus der Berliner Festspiele, Oberes Foyer rechts, auf der Treppe.
Direkt vor mir steht das Buffet. Von links nach rechts: 6 Stapel Teller, 2 Besteckkörbe, 2 Körbe mit Brötchen, 2 Platten mit Blätterteiggebäck, 2 Platten mit Teigröllchen, 1 Platte, 2 Salatschüsseln (Couscous?), 1 riesige Antipasti-Platte (Durchmesser mindestens 50 Zentimeter), 4 Salatschüsseln, 1 Platte, 2 Schüsseln mit Aufstrich (Hummus?), 3 Salatschüsseln, 1 Platte, 4 Salatschüsseln, 1 Platte mit Spießchen, 4 Salatschüsseln, 1 Platte, 1 Käseplatte mit Weintrauben (2 Messer stecken im Käse als wären sie vom Himmel gefallen).
Der Mitarbeiter mit Headset.
Es ist 22:27.
Der Applaus beginnt. Jubel mischt sich in den Applaus.
Erste Menschen verlassen den Saal.
Das Licht im oberen Foyer wird hochgedimmt.
2 Kellnerinnen positionieren sich am Buffet und sprechen miteinander.
Es ist 22:33. Der Applaus endet.
Menschen strömen aus dem Saal.
Das Buffet ist von einem roten Absperrband umgeben.
Ein Mann fotografiert das Poster an der Wand hinter dem Buffet (oder das Buffet?).
Menschen gehen nach unten, Menschen kommen nach oben.
Inzwischen stehen 4 Kellnerinnen am Buffet. Alle sind komplett schwarz gekleidet.
Der Mitarbeiter mit dem Headset.
Immer mehr Weingläser treten ins Blickfeld.
Es ist 22:45.
Das Buffet ist immer noch geschlossen.
Gespräche. Musik.