Erben will gelernt sein

She She Pop und ihre Väter stellen in „Testament: Verspätete Überlegungen zum Generationswechsel nach Lear“ generationsübergreifende Gerechtigkeit zur Debatte. Ein sehr persönlicher Theaterprozess fordert vor allem eines: Respekt.

Elisabethanische Halskrausen und King Lear: She She Pop und ihre Väter denken über den Generationswechsel nach. Foto: Doro Tuch

Am Anfang steht die knallharte Abrechnung, das nüchterne Vertragsdenken, das unverfrorene Fordern und Aufwiegen. Das Performance-Ensemble She She Pop hat für die King Lear-Bearbeitung „Testament“ ihre Väter auf die Bühne gebeten, um eventuell auftretende Schwierigkeiten beim Erben schon vorab zu klären. Da wird schon mal ein Differentialgleichungssystem skizziert, um die Transferleistungen des sogenannten Generationenvertrags zu durchschauen. Da werden ungeniert alte Kommoden und Lichtenstein-Drucke verlangt und großelterliche Liebe durch den „Enkelfaktor“ messbar und damit finanziell kalkulierbar gemacht. Da werden Lears hundert Ritter zu hundert Laufmetern Bücherregal, die doch nur im Weg stehen. Da wird schließlich eine geschickte Verschwörung der 68er ausgerufen, deren Kinder ohne Erbe gar nicht mehr überlebensfähig wären.

Nach der nicht immer ernst gemeinten ersten Verhandlungsrunde wird die weiße Fahne gehisst. She She Pop-Mitglied Fanny Halmburger steht ganz vorne an der Rampe, und überlegt, was es denn bedeuten würde, ihren alten Vater zu pflegen. Mit schauriger Zerbrechlichkeit spricht sie von verschimmelten Essensresten, von Dreck, Scheiße, und Gestank, vom unauffälligen Übertönen des viel zu lauten Fernsehers, von vollgepissten Bettlaken und angerotzter Kleidung, und vom routinierten Eincremen eines wundgelegenen, schwachen Körpers, das den Anspruch der Zärtlichkeit nie verlieren darf. Währenddessen nimmt sich ihr Vater Peter das Mikrophon und beginnt, Dolly Partons „I will always love you“ zu intonieren. Das ist nicht immer richtig und schon gar nicht stimmsicher: She She Pops Sebastian muss bei den Tonhöhen assistieren. Doch spätestens hier verstummt der letzte Lacher im Publikum. Spätestens hier wird klar, dass dieser Abend keine demographisch-statistische Rechenübung behandelt, kein kleinliches Feilschen, sondern eine viel grundlegendere Frage: Wie gehen wir mit Menschen um, die nicht mehr funktionieren? Wie behandeln wir die Schwachen, Ängstlichen, Hilfsbedürftigen, scheinbar Nutzlosen? Wieviel Miteinander ist überhaupt noch möglich in einer spätkapitalistischen Ich-Gesellschaft?

She She Pop treten die Flucht nach vorne an. Sie beziehen ihre eigenen Väter in den Prozess ein und machen die Scham, die Zurschaustellung von scheinbar Privatem zum Thema. Während draußen der Learsche Sturm tobt, ziehen sie den Vätern die Hemden und Hosen aus, entblößen sie und machen sich selbst zu den neuen Königen. Mit Kopfhören wird der nicht immer friktionsfreie Probenprozess nachvollzogen, Telefonate nachgespielt, E-Mails vorgelesen. Es geht um Authentizität, Echtheit und Rollenzuschreibungen. Es geht um die Angst des Performers vor der Nacktheit, wortwörtlich und symbolisch. Es geht um die Wirklichkeit des Stücks, von der man nie so genau weiß, wie wirklich sie sein kann. Und es geht darum, dass Theater auch Körper, die keinem Schönheitsideal mehr entsprechen, respektieren muss. Körper, die alt und ausgezehrt sind, schwach und zerbrechlich. She She Pop macht diesen fundamentalen Respekt in jeder Sekunde spürbar. Ihr „Testament“ ist kein Vertrag voller Vermögenswerte und Aufteilungsformeln, sondern ein viel rareres Gut: ein Zeichen der Aufmerksamkeit.

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Leopold Lippert, geboren 1985 in Mistelbach (Österreich), studierte Anglistik und Amerikanistik in Wien und Washington, DC. Nach einigen Unijobs arbeitet er momentan an seiner Dissertation zu Amerikanisierung und Performance. Er lebt in Wien, schreibt über Theater in wissenschaftlichen Zeitschriften, beim Online-Magazin fm5.at und auf seinem Blog.

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