Das Theater ist eine große Familie und das Theatertreffen lädt zur Familienfeier. Wer darf kommen und wer nicht? Unser Autor denkt über die notwendige Öffnung nach und schlägt ein Theater als Kontaktzone vor.
Im Theater duzt man sich, denn alle Theatermenschen sind eine große Familie. Das ist so schön. Das Nest der Theaterfamilie ist aus Gerüchten über die Großonkel gemacht, aus Eifersüchteleien und Affären, aus dem gemeinsamen Erfolg und Scheitern und aus wochenlangen Proben: Die Schauspieler*innen spielen, wie die Kinder, drauflos, und die Regisseur*innen und Dramaturg*innen rahmen das, mal autoritär, mal antiautoritär, je nach Erziehungsmethode. Davor müssen die Schauspieler*innen zur Schule gehen und dort diszipliniert werden. Nicht, dass jemand aus dem Nest fällt. Kein Wunder also, dass die Theaterstücke so häufig Familiengeschichten erzählen, die dann in Theaterhäusern gezeigt werden, in denen die Theatermenschen nicht nur arbeiten, sondern leben. Die Theaterfreund*innen dürfen dann und wann von draußen in dieses Familienleben hineinschauen, aber nur, wenn sie die Klappe halten und still sitzen.
Auch Angeheiratete dürfen auf die Bühne
Das familiäre Theaternest ist auch schrecklich. Es ist schrecklich, weil die Schauspieler*innen zu unmündigen Kindern gemacht und ausgebeutet werden. Und es ist schrecklich, weil Familien immer Gefahr laufen, sich zu sehr abzuschotten und die eigenen Überzeugungen mit der Wahrheit zu verwechseln. Familien neigen zur Homogenität: Die Theaterfamilie ist modisch gekleidet, schön, charmant, gebildet, groß gewachsen und weiß. Und sie verdrängt beständig, dass es noch Andere gibt, die in unzähligen anderen Welten leben und arbeiten.
Wegen dieser Enge versucht sich die Theaterfamilie zu öffnen und eine Patchworkfamilie zu werden. Die Bühnenarbeiter*innen gehören jetzt irgendwie auch mit dazu und die Theaterfreund*innen dürfen auch mal im Theater übernachten. Auch die Angeheirateten mit Migrationshintergrund dürfen ab und an mit auf die Bühne. Es darf auch mal mit Laien, Tänzer*innen und bildenden Künstler*innen gespielt werden.
Das Theatertreffen zeichnet ein Bild dieser zaghaften Öffnung: Die verrückten Onkel und Tanten von „Forced Entertainment“ dürfen wie selbstverständlich mitspielen, obwohl sie aus dem Ausland sind. Es gibt bei „Five Easy Pieces“ sogar echte Kinder auf der Bühne. Obwohl die doch für gewöhnlich in der Kindertheater-Kita abgegeben werden. Das Theater Dortmund öffnet sich der Technologie mit VR-Experimenten. „89/90“ rebelliert mit Punkästhetik gegen die Einengung. Außerdem gibt es ein ganzes Wochenende Diskussionensrunden und Interventionen und es werden Kooperationen mit dem Zirkus und mit Theatergruppen aus einigen afrikanischen Ländern gezeigt.
Mut zum Experiment
Das ist aber immer noch zu wenig Öffnung. Aus der Patchworkfamilie könnte ein offenes Netzwerk werden und aus dem Theaterhaus eine Kontaktzone, ein Ort, an dem sich Menschen treffen, die sich sonst nie treffen würden. Anstatt die immergleichen Familienfeiern zu inszenieren, könnten Formate gezeigt werden, die eine breitere Öffentlichkeit einladen. Das Theatertreffen versucht in seinem Rahmenprogramm genau das zu tun. Es versucht einen Spagat zwischen den zehn ausgewählten Stücken und einem Festivalwochenende, das mit „Shifting Perspectives“, dem Stückemarkt, der Konferenz „The Art of Democracy“ und vielen Interventionen vollgestopft ist und international, jung, gegenwärtig, plural und kritisch daher kommt. Das Theatertreffen wagt sich, noch etwas tapsig, aus dem Nest. Noch war das Rahmenprogramm etwas chaotisch und nicht allzu gut besucht. Noch war die Konferenz mit ihren großen Panels zu steif und die Interventionen verpufften. Aber eine solche Umstellung braucht eben Zeit und Mut zum Experiment.
Es ist kuschelig im Theaternest. Etwas zu kuschelig. Aber einfach raus springen? Es geht ganz schön weit runter da. Und kalt ist es auch. Und ob die paar Federn schon zum Fliegen reichen?
Zu den weiteren Einträgen in unserem Theatertreffen A bis Z.