Ewig kreiseln die Klassiker: Unsere Autorin findet das nicht falsch, sehnt sich aber trotzdem nach einem anderen Theater. Ausgerechnet das Theatertreffen gibt Anlass zu Zuversicht.
Die Genese dieser Zeilen, die eine Auskunft über mein Theaterverständnis und meine Erwartungen ans diesjährige Theatertreffen geben sollen, beginnt in meinem Kopf mit der Frage, wo und wie ich am besten anfangen sollte. Vielleicht mit ein paar geflügelten Worten einer Person, die das Theater maßgeblich geprägt hat? Wie wäre es mit Brecht? „Das Theater darf nicht danach beurteilt werden, ob es die Gewohnheiten seines Publikums befriedigt, sondern danach, ob es sie zu verändern vermag“, notiere ich aus einer seiner Schriften zum Theater. Doch ich komme ins Zweifeln. Was haben diese Worte mit mir zu tun? Können sie mein Theaterverständnis repräsentieren – so herausgerissen aus dem Gesamtkontext ihres Werkes und ihrer Zeit? Und wenn ja, was möchte ich damit aussagen? Bin ich gegen Theater der Gewohnheit? Und wenn ja, was meine ich damit? Bin ich gegen Klassiker?
Bitte mal nachdenken
Ich lege den Stift weg und verbringe die nächsten Tage damit, für mich selbst auszuloten, was ich unter Klassikern verstehe und ob ich tatsächlich gegen ihre wiederholte Inszenierung spreche. Ich erkenne, dass ich nichts gegen die Aufführung von Dramen, die einem klassischen Kanon entstammen, einzuwenden habe und zugleich bemerke ich eine grundsätzliche Verweigerung, benennen zu müssen, wogegen ich bin. Denn ich weiß nunmehr, dass ich für klassische Dramen, für Stückentwicklungen, für dokumentarisches, für installatives, für experimentelles, ja eigentlich für jegliche Form von Theater zu begeistern bin – solange darin und dahinter denkende Subjekte stehen, die mit ihrer Kunst ein Anliegen verfolgen, welches mannigfaltiger Natur sein kann: Sei es der Wunsch nach dem Formulieren eines politischen Statements, nach der Überschreitung einer physischen Grenze oder nach dem Ausprobieren einer neuen ästhetischen Form. Letzteres macht mir plötzlich bewusst, wie viel Talent und Arbeit es erfordert, die ästhetische Bandbreite der Theaterkunst zu beherrschen.
Und dennoch ist Theater – als eine Kunstform, die von einem Team gemeinsam erarbeitet und im öffentlichen Raum zur Diskussion gestellt wird – für mich auch immer politisch. Nicht nur in einem werkimmanenten Sinn, nein: Die Institution Theater, wie auch jede Inszenierung für sich, vermag es – etwa durch die Personen, die sie repräsentiert, oder als Publikum adressiert – zu formulieren, welche Menschen sie als Teil unserer Gesellschaft erachtet und welche sie dagegen als das scheinbar Marginale ausschließt. An diesem Punkt meines wirren Gedankensammelsuriums beschließe ich nun über mein Wollen zu berichten: Ich will und kann nur fordern, dass sich die Institution Theater fortwährend diversifiziert. Dass Theater nicht die Gestalt einer exquisiten Abendunterhaltung annimmt (auch wenn ich an Unterhaltung grundsätzlich nichts auszusetzen habe), sondern daran arbeitet, sich thematisch, wie ästhetisch, der Gesellschaft in ihrer Diversität zu öffnen.
Welche Stoffe stelle ich als Institution auf der Bühne zur Debatte? Wer hat diese Stoffe geschrieben? Und wer inszeniert sie?
Dass Theater sich öffnet für Perspektiven, die vielleicht nicht der so genannten abendländischen Tradition entstammen, die aber deswegen nicht weniger bereichernd für den künstlerischen Prozess sind. Dass Theater atmet. Alle Beteiligten einer Produktion frei atmen lässt, statt auf antiquierte Hierarchien zu vertrauen. Dass Theater (nach)denkt. Insbesondere, wenn es um die Repräsentation von Menschen geht, wünsche ich mir, dass nicht mehr der einfach(st)e Weg der Stereotypisierung gewählt, sondern jede Figur differenziert skizziert wird – wofür ein Produktionsteam mit diversen Perspektiven unerlässlich ist! Dass Theater reflektiert. Welche Stoffe stelle ich als Institution auf der Bühne zur Debatte? Wer hat diese Stoffe geschrieben? Und wer inszeniert sie? Was sage ich damit aus über mein Verständnis von Theater? Wie positioniere ich mich im Weltgeschehen? Dass Theater diskutiert. Und zwar auf einer Ebene, die Theatermacher*innen wie Zuschauer*innen den Diskurs auf Augenhöhe gewährt. Dass Theater sich Zeit lässt. Eben für diese oben genannten Prozesse. Und durch Achtsamkeit glänzt, statt durch einen unermüdlichen Produktionsdrang, der nahezu industrielle Ausmaße annimmt.
Es atmet noch und es atmet weiter
Ich höre auf zu schreiben und schaue mir im Detail das Gesamtprogramm des diesjährigen Theatertreffens an. Zufriedenheit macht es sich plötzlich auf meinem Gesicht gemütlich, denn ich erkenne, dass viele meiner formulierten Forderungen bereits Teil des Theaterdiskurses geworden sind – auch wenn die Treppe der Realisierung noch immer stufenreich ist. Zugleich sehe ich, dass die diesjährigen ausgewählten Produktionen, sei es ästhetisch, sei es formal, sei es inhaltlich, zahlreiche Wagnisse eingehen und insofern enorm viel Potenzial für anschließende Diskurse auf mehreren Ebenen bereitzuhalten scheinen. Diese Erkenntnis macht mich zuversichtlich. Das Theater wird nämlich weiteratmen, weiterdenken, weiterschreiten, weiter und immer weiter, solange Potenzial zum (achtsamen) Diskurs und zur Veränderung von Publikumsgewohnheiten da ist. – Auch und im Besonderen auf diesem Theatertreffen!