Haltung, meine Herren!

Ferner Osten, Balkan, China, Polen und eine nostalgische Post-DDR – die Settings der diesjährigen „Stückemarkt“-Texte machen Hoffnung auf große Themen. Doch leider sind die Stücke oft Mogelpackungen.

Die Frage schwebte fast bedrohlich im Raum. „Wie politisch sind denn Ihre Texte?“, wagte eine Zuschauerin am ersten Stückemarkt-Autorentisch zu fragen. Stückemarkt-Leiterin Yvonne Büdenhölzer hatte sich zuvor alle Mühe gegeben, die interessanten persönlichen Hintergründe der anwesenden Jungherren-Runde aufzuzählen und so die Autoren in einem politischen Kontext zu verorten: Konradin Kunze war gerade frisch aus Indien zurückgekehrt, wo er staatliche Willkür hautnah zu spüren bekommen hatte; bei Dmitrij Gawrisch, einem in der Schweiz lebenden Ukrainer, schwingt schon im Namen die Ausländerproblematik mit, und Mario Salazar erzählte, wie sein Vater einst in Chile gegen Salvador Allende putschte und als Landesverräter in der DDR landete. Nur: In Salazars Stück „Alles Gold was glänzt“ kennen die Figuren das Wort „Aufstand“ im besten Fall aus dem Fernsehen; Gawrisch dementierte mit „Meine Eltern sind Diplomaten“ gleich alle Vermutungen, die ihn in die Ecke „Ausländer mit Flüchtlingsvergangenheit“ drängten, und Konradin Kunze blieb von allen am deutlichsten undeutlich: „Nein, ich möchte in meinen Stücken keine politische Haltung vertreten.“ Man kann von Autoren natürlich nicht verlangen, dass sie ihre Erfahrungen oder eine durchpolitisierte Kindheit für ihre Stücke verwenden. Aber: Man kann ihnen vorwerfen, dass sie durch ein bestimmtes Setting Themen wie Ost-West-Konflikt, Einwanderungsproblematik, Fremdenhass und Repression zwar aufrufen, dann im Text aber nicht verhandeln. Politische Inhalte machen nämlich noch keinen politischen Text. Politisch zu schreiben würde heißen, neue Lesbarkeiten von Konflikten zu generieren, andere Deutungsmöglichkeiten auszuprobieren und damit festgefahrene Bedeutungsstrukturen aufzubrechen. Stattdessen operieren viele Stücke dieses Stückemarktes mit unverdauten Klischees oder – noch schlimmer – benutzen politische Inhalte als Alibi-Hintergrund, um eine Familienstory weniger blass erscheinen zu lassen. Das Resultat ist eine haltungslose Beliebigkeit.

Als erstes ein Blick auf Kunzes „foreign angst“. Die Hauptfigur ist ein junger Journalist und derart bemüht, aus dem eigenen Stereotyp auszusteigen (Studium abgebrochen – gratuliere! Kein reicher Papa und doch beruflich engagiert – ja, was für eine Leistung!), dass er sich lieber Tourist als Journalist nennt, denn die Berufsbezeichnung ist ihm schon zu konkret. Dieses Touristische ist exakt Kunzes Haltung beim Schreiben: Man will ja nur mal gucken, was da so passiert im Kriegsgebiet, man will ja nichts Böses, Gott bewahre, und sich schon gar nicht in fremde Angelegenheiten einmischen. „foreign angst“ steht wie die Hauptfigur unter der verhängnisvollen Allerweltslegitimation „mal sehen“. Die Personen kommen aus „einem westlichen“ und aus „einem anderen westlichen Land“, das Ganze spielt in „einer kleinen Stadt in einem Kriegsgebiet“, und welche Sprache die Protagonisten sprechen, ist auch egal. So ist ein Irgendwie-irgendwo-Text entstanden, den trotzdem sofort alle im Fernen Osten einordnen. Kunze leistet durch die vage Situierung seines Stücks und die Typisierung seiner Figuren („naiver, aber idealistischer junger Westler“, „verbitterte Entwicklungshelferin“ und „unterdrückte Frau in islamistischer Gesellschaft“) genau den Klischees Vorschub, die er vermeiden will. Auch Gawrischs „Brachland“ ist nicht konkret verortet, die Personen sind „von hier“ und „von dort“ und vielleicht aus „einem dieser Ex-Länder“, vom Balkan oder vom Balkon, das macht keinen Unterschied. Es ist ein klein gedachtes, um die Themen Verpflichtung, Abhängigkeit und Selbstverwirklichung kreisendes Familiendrama, hinter das der Autor eine politische Folie gezogen hat, ohne sich wirklich auf sie zu beziehen – und man tut dem Stück einen großen Gefallen, wenn man es als Parabel auf die Ausländerfeindlichkeit in der Schweiz liest.

Noch bedeutungsentleerter als bei Kunze und Gawrisch die Orte sind bei Mario Salazar die Begriffe. Karl Marx und Karl May und alles, was auf -ismus endet, ist sowieso dasselbe – pardon, Herr Salazar, das Gleiche, wir haben als Zuschauer Ihres Stücks diese Deutsch-Lektion gelernt. Doch wenn Sie schon so ironisch-pedantisch mit Bedeutungen umspringen: Wie wäre es denn, wenn Sie die Begriffe mit neuen Bedeutungen aufladen, statt sie als Banalitäten platt zu walzen? „Alles Gold was glänzt“ ist voll von inflationär verwendetem revolutionärem Vokabular und wild durcheinander gewürfelten politischen Konzepten, aber führt doch nur dahin, im Garten „Marmelade zu kochen und in der Hängematte zu liegen“. Wenn das Salazars Lebenstraum ist, dann sei er ihm gegönnt. Aber er soll ihm statt auf der Bühne bitte auf einer Brandenburger Datsche nachgehen. Da fällt Juri Sternburgs „der penner ist schon wieder woanders“, der Gewinner-Text des diesjährigen Stückemarkts, aus dem Raster. Man kann darüber denken, wie man mag, man kann den speziellen Humor mögen oder nicht, die Personifizierung von Gott als Penner abgenutzt finden oder originell – zumindest gibt sein Stück nicht vor, etwas anderes zu sein als ein Berliner Untergrund-Tarantino für die Bühne.

Mangelnden sprachlichen Gestaltungswillen kann man wiederum Benjamin Lauterbach nicht vorwerfen. Seine Parabel „Der Chinese“ spielt „viele Jahre in der Zukunft“, und das China des Textes bezieht sich nicht auf das reale China, sondern ist eine Chiffre für das heutige Deutschland, das einem zukünftigen, vermeintlich idyllischeren wie eine Fratze vorgehalten wird. Das ist eigenwillig, weil das China, das der Text entwirft, keine Metapher für das Fremde, sondern für das Eigene ist. Das zukünftige Deutschland hingegen, in dem der Text spielt, ist ein dystopisches, einer Art Gesundheitsrepression anheim gefallenes, wo Plastik, Fleisch und Handys geächtet, Sushi und Holz aber hoch im Kurs sind. Und da schleppt doch dieser Chinese, den es zu bewirten gilt, tatsächlich eine Gummipuppe und ein Kleid aus Polypropylen als Gastgeschenk an! Das gibt Stoff für Werte-Diskussionen her. Doch die szenische Lesung hat gezeigt: Auch der „Chinese“ möchte lieber nicht politisch, sondern unterhaltsam gespielt werden. Die Figuren sind so sehr ins Lachhafte geschraubt, dass ein Grundton von Mickey-Mouse-hafter Komik den Text durchzieht und dafür sorgt, dass er statt in Richtung einer bösartigen Groteske in die Harmlosigkeit abdriftet.

Auch Małgorzata Sikorska-Miszczuk schreibt lieber ungewöhnlich: In ihrem „Bürgermeister“ verhandelt sie ein Bruchstück aus der Geschichte Polens und spaltet dafür ihre Figuren auf, lässt sie in verschiedene Zeiten abstürzen oder verzwölffacht sie sogar. Doch obwohl die Sprache mysteriös glänzt, bleiben die inhaltlichen Bezüge so diffus, dass sie sich einer wirklichen Auseinandersetzung versperren. Interessanter Text, aber fürs Theater kaum zu knacken (wer wagts?). Paradoxerweise sind die beiden Stücke, die nicht mit großen Geschützen auffahren, am politischsten, und sie kommen von zwei Autorinnen. Rebecca Christine Schnyder lässt zwei Schwestern ihre Lebensentscheidungen verhandeln, indem sie ihren unmündigen Bruder gegeneinander ausspielen. „Schiffbruch“ handelt von Verantwortung und persönlicher Freiheit und hat so mehr gesellschaftliche Relevanz als Kunzes Nahost-Stück. Nur schade, dass Schnyders Sprache so alltäglich daher kommt. „Essen ist fertig. / Ich hab keinen Hunger. / Ich auch nicht. / Ich hab extra gekocht. / Hast du gesagt.“ Ein zufällig mitgehörter Familienstreit unter Nachbarn klingt nicht anders. So bleibt Anne Leppers Text „Hund wohin gehen wir“, der mit dem Werkauftrag des schaupiel hannover ausgezeichnet wurde, nicht nur der sprachlich anspruchsvollste, sondern auch der einzige, der über das Bestehende hinausweist. Lepper erzählt von verlorenen Kindern, die aus der Welt gefallen sind, bevor sie überhaupt jemals die Chance hatten, in ihr Fuß zu fassen. Dennoch bewahren sich diese Ausrangierten mit ihrer Sprache und ihrer Gedankenwelt Phantasieräume fern von Terror und Kontrolle, die aber in einem Gewaltrausch aufgehen, als irgendwann das Außen einbricht. In ihrer Fähigkeit zur Poetisierung der Welt und in der Schaffung sprachlicher Gegenwelten ist Anne Lepper an diesem Stückemarkt zwar stiller, dabei aber politischer als alle anderen.

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Fadrina Arpagaus, geboren 1980 in Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Berlin. Während ihres Studiums hospitierte und assistierte sie am Schauspielhaus Zürich u.a. bei Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief und Schorsch Kamerun und in der freien Szene Berlins. Danach begann sie eine Dissertation mit dem Titel „Radikale Gefährdung. Subjektkonstitutionen in Theatertexten des 21. Jahrhunderts“ und arbeitete als Journalistin, unter anderem für "der Freitag" und Kulturkritik.ch. Zurzeit ist sie als Dramaturgieassistentin und ab nächster Spielzeit als Dramaturgin am Theater Basel engagiert, wo sie für das Schauspiel den Blog entworfen hat.

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