Der Eröffnungsabend mit den Baseler „Drei Schwestern“ versetzt Tschechows Klassiker in ein Schöner-Wohnen-Chalet. Gelingt die radikale Überschreibung?
In den „Drei Schwestern“ von Tschechow, diesem Stück, das permanent in die Zukunft zeigt, heißt es einmal: „ Wir müssen bloß arbeiten und arbeiten, das Glück aber, das wird unseren fernen Enkeln zuteil. Nicht meinen, aber wenigstens den Enkeln meiner Enkel.“
Bei Simon Stone kommen jetzt diese fernen Urenkel zur Schiebetür des Familienferienhauses in einem Schweizer Alpendorf hereingetrampelt, mit großen Tüten aus dem Supermarkt unterm Arm und der Megapackung Hakle-Klopapier extra soft. Und, will man wissen, hat sich das Zukunftsversprechen für sie eingelöst? Mitnichten.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Die berühmt-berüchtigte Adaption ist geglückt, ja regelrecht ein Wunder. Sie wagt den tatsächlichen Zeitsprung in die Gegenwart, anstatt einem Bühnenklassiker die hunderttausendste Erkenntnis abzuringen, dass da Themen vorkommen, die heute immer noch aktuell sind. Tschechow, der wie kein anderer dafür herhalten muss, dass wir uns Inszenierung für Inszenierung ein Bild von der sehnsuchtsvollen Seele in den russischen Weiten stricken können, rückt uns in dieser Version unbequem nahe auf den heutigen Pelz.
Reflektiert ins Elend
Die Überschreibung ist auch deshalb so überzeugend, gerade weil sie sich sehr präzise an die Vorlage hält: das stark Motivische Tschechows, die Themen und Genrezutaten bleiben alle erhalten: die typischen Übersprungshandlungen, die abrupten Stimmungs- und Gesinnungswechsel, der sagenhafte Sprachkitsch, das konsequent egozentrische Kreisen um die eigene Person, das Hadern mit der Menschheit, die nervtötenden Anderen, das Rätseln um die Zukunft und das quälende Herumsuchen in der eigenen Biographie.
Der Gegenwartsmensch, so gewinnt man den Eindruck, geht reflektiert zugrunde. Die Urenkel haben alles gelesen, kennen sich aus in der kritischen Theorie: Camus, Rilke, Adorno und natürlich Baudrillard, denn: „Der Typ hat’s echt geschnallt!“ Man sehnt sich nicht mehr nach der Zukunft, sondern nach dem Mars, also maximal weit weg. Für den Intensitätstourismus hat Berlin ausgedient, jetzt will man nach New York. Der Horror des Selbstverwirklichungsimperativs, an dem man durch das viele Seriengucken gehindert wird, endet in Drogenkonsum und Schmerzbetäubung. Es ist erschreckend, wie plausibel und bekannt das alles daherkommt. Denn was bleibt von diesen ganzen Lebensläufen, die in den 20ern mit einem 60.000 Dollar-Stipendium an einer Elite-Uni in den USA verheißungsvoll beginnen und dann „ins Leere laufen? Na, ja.“
Eine ganze Gegenwartswelt
Die „postmoderne Interpretation“ der Almhütte mit den vielen Glasfronten, die auf der Mitte der Drehbühne steht und in die man so herrlich reinglotzen kann, lädt schon sehr zum expliziten Voyeurismus ein. Wie eine Peep-Show bietet sich der immerzu drehende Familienkosmos der Beobachtung und Neugier an. Es passiert immer etwas, in jedem Zimmer spielt sich ständig irgendein privates Drama ab und nebenher wird gegessen, gesungen, auf dem Klo gesessen, gevögelt, diskutiert, geküsst, geredet, Playstation gespielt. Es ist eine ganze Gegenwartswelt, die sich in dem Haus dort dreht.
Dass die Schauspieler dabei eher selten das Haus verlassen und ausschließlich über Mikroport sprechen, gibt ihnen die Möglichkeit, die Figuren ganz intim zu porträtieren. Und sie spielen das wunderbar, wirklich alle, diese ausgelaugten Existenzen im Stehen, im Sitzen, im Liegen oder in ihren müden Gängen durchs Haus. Sie sprechen manchmal nuschelnd und leise, sind eigentlich zu erschöpft zum Kommunizieren, sie zeigen die Brüche ihres Verhaltens in ihrer ganzen Fragilität und sind dabei auch noch umwerfend komisch. In dieser Intimität liegt eine fast filmische Nähe zu den Figuren, was im Grunde ein Paradox ist, da sie, weggeschlossen im Plexiglaskasten, sich dem verweigern, was Theater sonst oft ausmachen soll: der Schweißtropfen des Schauspielers auf der eigenen Stirn. In der Parallelität der Ereignisse entwickelt der Abend eine unglaubliche Sogwirkung des Sehens, man schaut und erkennt sich selbst.
Ein überraschendes, großes Theaterglück. Und das gleich zu Beginn des Theatertreffens. Wie schön.
Drei Schwestern
von Simon Stone nach Anton Tschechow
Übersetzung aus dem Englischen von Martin Thomas Pesl
Regie: Simon Stone, Bühne: Lizzie Clachan, Kostüme: Mel Page, Licht: Cornelius Hunziker, Musik: Stefan Gregory, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Barbara Horvath, Franziska Hackl, Liliane Amuat, Nicola Mastroberardino, Cathrin Störmer, Michael Wächter, Elias Eilinghoff, Simon Zagermann, Max Rothbart, Roland Koch, Florian von Manteuffel.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause