„Die Geschichte von Kaspar Hauser“
Regie und Bühne: Alvis Hermanis
Premiere: 16. Februar 2013 am Schauspielhaus Zürich
Handlung: ein hilfloser Gulliver landet bei den Biedermeiers und damit kommt keiner klar
Anzahl der Klaviere: 4
Rekordverdächtig: Die meisten Kinder spielen gerne mit Puppen, aber diese hier spielen selbst die Puppen.
90 Minuten Märchen- und Traumwelt. Der Eintritt in diese Welt beginnt mit einem Weg durch einen schmalen Gang zur Zuschauertribüne auf der Hinterbühne, auf der links rechts und rechts links ist. Das sorgt für Verwirrung beim Finden des Sitzplatzes, macht aber auch gleich spürbar deutlich, dass hier andere Regeln gelten. Hier scheint es normal, dass auf der Bühne vier Klaviere und ein weißes Pferd stehen. Wenn nacheinander von rechts und links sechs Schwarzgekleidete die Bühne betreten, schaut das Pferd, im Scheinwerferlicht leicht nervös, hin und her wie bei einem Tennisspiel. Die Darsteller und Darstellerinnen setzen große schwarze Hüte mit Gesichtsschleier auf und verwandeln sich so vor aller Augen in Nicht-Figuren, in schwarze Schatten. Sie fungieren als Erzählerinnen, Pianisten und vor allem als Puppenspielerinnen, die die Protagonisten – gespielt von Kindern in Biedermeierkostümen und mit grauhaarigen Frisuren – führen und ihnen ihre Stimmen leihen. Die von den schwarzen Schatten geführten Kinder mit ihren künstlich überzeichneten Erwachsenengesten und -stimmen, bilden einen vielschichtigen Assoziationsraum. Wie sich die Kinder der Führung überlassen, ist – bei aller Putzigkeit – ein befremdlicher und rührender Anblick. Man kann sich gut vorstellen, dass es für die jungen Bühnenlaien eine dankbare Hilfe ist, in jeder Geste und jedem Schritt geleitet zu werden. Andererseits werden die Kinderkörper, klein und folgsam, hier als ästhetisches Mittel für eine Puppenstubeninszenierung eingesetzt. Es ist ein kraftvolles Bild, das davon erzählt, wie Kinder Rollen als hohle Gesten einüben, ambivalenter Zwang und Hilfestellung gleichzeitig, wie das Zusammenleben von unsichtbaren, aber wirkmächtigen Schatten bestimmt wird. Das Spiel erinnert mich an Kinder, die mit altklugen Gesten und von den Eltern originalgetreu kopierten Körperhaltungen oder Formulierungen ganze Festgesellschaften unterhalten können. Das ist lustig und irgendwie gruselig. Führt uns diese Parodie vor, wie genormt wir uns selbst verhalten, während wir uns frei und individuell fühlen?
Kaspar Hauser wird weder von einem Kind verkörpert noch von schwarzen Schatten geführt. Jirka Zett spielt ihn als unsicher tapsenden Riesen und hilflos leidenden Fremdling, der allein durch seine Körpergröße so gar nicht in die auf Kindergröße zugeschnittene Puppenstube der Biedermeiers hineinpassen will. Trotzdem geht, wie durch ein Wunder, noch nicht einmal Porzellan zu Bruch bei dem Versuch der Bürger, Kaspar Hauser für ihre Art von Leben tauglich zu machen. Der Fremdling und seine Lernprozesse sind für die philosophisch gebildeten Bürger „ein sehr interessanter Fall“. Sie wollen Kaspar Hauser zunächst erforschen und seine Seele retten, bis sie den Fremdling am Ende umbringen – Kolonialgeschichte in der eigenen Puppenstube. Kaspar wird für sie zur Folie, vor der sie versuchen, sich der eigenen Fortschrittlichkeit und Aufgeklärtheit zu vergewissern. Es gibt aber auch die ganz kleinen Momente, in denen ihre enge Welt ins Wanken gerät und die Selbstvergewisserung am „wilden“ Forschungsobjekt nach hinten losgeht. Nämlich dann, wenn das Objekt auf einmal eigene Gedanken äußert. Wenn Kaspar so irritierende Fragen stellt wie „Warum ist der Himmel ein Loch?“, „Wer hat die Blätter an den Baum gehängt?“ oder „Warum ist das Leben traurig?“, zweifeln die Bürger doch an ihren fertigen Antworten. Sie schwanken in ihren Reaktionen zwischen Vorwurf „Du bringst mich noch ganz durcheinander, Kaspar!“ und melancholischem Seufzen „Weißt du, das ist doch unser Zuhause…“ und scheinen zu ahnen, dass sie nicht weniger im Dunkeln tappen als Kaspar.
Die Momente der echten Irritation durch die Konfrontation mit einem ganz anderen Leben sind aber nur von kurzer Dauer. Am Ende stößt die Gesellschaft Kaspar als Betrüger aus und vergräbt ihn wieder in dem Sandkasten, aus dem er zu Beginn von einem kleinwüchsigen Menschen ausgegraben wurde. Diese seltsame Gestalt, fürsorglich und bedrohlich, gespielt von Roland Hofer, geistert nur sichtbar für Kaspar und das Publikum, nicht aber für die anderen Figuren, als Teil von Kaspars Albträumen über die Bühne.
Aber zurück zum Pferd. Ihm gelingt, zumindest kurzzeitig, gleich zu Anfang etwas, das weder Kaspar Hauser noch die Gesellschaft der kleinen Bürger schaffen: mit einem geschickten Schwung der Hufe löst es den Strick, mit dem es angebunden ist, aus der Verankerung am Bühnenboden. Aber was eine symbolische Geste hätte sein können, oder – am Ende des Stücks platziert – eine allzu platte Moral von der Geschicht, war offensichtlich nur ein Versehen und so wird das Pferd nach einem kurzen Moment der Verwirrung auch gleich wieder angebunden. Im Verlauf des Stücks versucht es sich noch ein paar Mal vergeblich an dem Befreiungsmove, der beim ersten Mal so erfolgreich war. Damit weist uns das Pferd als stummer Kommentator am Bühnenrand immer mal wieder in überdeutlicher Bildsprache darauf hin, dass hier gerade nichts Geringeres verhandelt wird als der jahrhundertealte philosophische Streit zwischen Natur und Zivilisation. Was ist das eigentliche Gefängnis? Die Dunkelheit des Nichtwissens und der Sprachlosigkeit, aus der Kaspar Hauser ausgebuddelt wurde? Oder die Zivilisation, die schon die Kinder zu Greisen macht und ein süßes Pferdchen an kurzer Leine hält?
Das Stück endet mit einem Streichkonzert der kleinen Bürger, dieses eine Mal ohne Puppenführer. Sie gehen nach Kaspars Tod zur Tagesordnung über. Ein rührendes, eindrückliches, ambivalentes Schlussbild: Die Kinder spielen diese Musik, passabel zwar, aber mit vielen schiefen Tönen, den komplexen Regeln der Musik folgend so gut sie können, mit sichtlichem Enthusiasmus. Ich sehe die greisen Kinder, die offensichtlich viel geübt haben, an ihren Instrumenten und für ihre beeindruckend virtuos gespielten Rollen als lebendige Puppen in diesem Stück, die alles richtig machen wollen, so angepasst folgsam. Gleichzeitig spielen sie jetzt selber, selbstbewusst, mit ihren ganz eigenen Bewegungen. Das klingt wie erste Gehversuche, die strenge Form des Mozartstücks dabei als Geländer nutzend, um in der Musik und im Zusammenspiel auch etwas Eigenes zu finden.
Foto: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie
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