Mehr umfallende Reissäcke!

Raus aus der Blase, Blick auf das Ganze: Der Stückemarkt beim Theatertreffen stand diesmal unter dem Motto „Geteilte Welt“. Unsere Autorin sah die Stücke zwar nicht fliegen, fand es am Boden aber eh schöner.

Raus aus der Blase, Blick auf das Ganze: Der Stückemarkt beim Theatertreffen stand diesmal unter dem Motto „Geteilte Welt“. Unsere Autorin sah die Stücke zwar nicht fliegen, fand es am Boden aber eh schöner.

Marlene Knobloch

Jahrgang 1994, studiert Deutsche Literatur und Medienwissenschaft in Berlin. Sie ist Stipendiatin der Journalistenausbildung der Passauer Neuen Presse. Lebt in Berlin.

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„Was ist der Stückemarkt?“, fragt ein TT-Beteiligter (!) neugierig auf (!!) dem Theatertreffen. „Kann man da Stücke kaufen?“ (!!!) Um alle Missverständnisse vorweg zu nehmen: Der Stückemarkt ist ein Wettbewerb, bei dem sechs Theatertexte aus aller Welt in Lesungen oder (bereits uraufgeführten) Performances präsentiert und diskutiert werden – was selbstverständlich unsagbar wichtig für junge Dramatiker ist.

Sowohl formal als auch inhaltlich wurde dieses Jahr (überraschender Weise) nach Innovation, Originalität und (wer hätte es gedacht) Dringlichkeit gesucht. Dabei mischte sich das klassische Skript, entstanden an einsamen Nachmittagen im Kaffeehaus (z.B. Leon Engler, Olivia Wenzel) mit von Performern entwickelten Texten (z.B. Turbo Pascal, Old Masters), entstanden an gemeinsamen Nachmittagen auf Probebühnen. Also gut. So blöd war die Frage doch nicht – was ist der Stückemarkt eigentlich? Welche Rolle spielt das Schreiben? Welche das Skript? Welche die Performance? Sind Liebe und Philosophie weniger relevant als Rechtspopulismus und das Internet? Was ist dringlich? Was ist innovativ?

Mut zur Komödie

Fangen wir mit der Suche bei dem Außenseiter an: Weder besonders innovativ noch dringlich ist „Die Benennung der Tiere“. Das relativ klassisch gebaute Stück kitzelt mit seiner Absurdität den kritischen Theatertreffen-Geist, was ihm zwar so manches Kichern entlockt, ihn jedoch nicht von der eifrigen Suche nach Relevanz ablenken kann. In Leon Englers well-made-play rutscht ein Produktester auf seiner Leberwurststulle aus und landet auf den U-Bahngleisen, wo er von Passanten für einen heiligen Wal gehalten wird. Eine natürlich schon fast auffällig freche Storyline, welche zunächst erst mal funktioniert: die szenische Lesung unterhält, die Schauspieler sind lustig, überhaupt man lacht, der Sekt schmeckt. „Die Benennung der Tiere“ springt von einem Missverständnis ins nächste („Ein Wal bin ich, wenn ich ein Wal sein soll“ – „Er ist ein Wal!“), trottet dabei leider manchmal auf ausgetretenen Umwegen („Sind Sie ein Stier?“ – „Soweit ich weiß bin ich kein Stier. Krebs von Sternzeichen“) und zeigt eine Welt, in der scheinbar alle dem Ozean der Traurigkeit entfliehen wollen.

„Die Benennung der Tiere“ von Leon Engler beim TT-Stückemarkt. Foto (c) Piero Chiussi

Wirklich humoristisch originell wird es, als die wahnsinnig erfolgreiche und wahnsinnig blöde Modebloggerin Chiara Ferragni ihre Maske abreißt und sich als Elfriede Jelinek entpuppt, die herrlich in ihrer Miesepetrigkeit parodiert wird. Irgendwann jedoch verläuft sich der Weg, wohin genau das Stück führen soll, ist nicht wirklich klar, die philosophischen Dimensionen, die angerissen werden, lassen nicht tief blicken, der mysogene und überhaupt wahnsinnig ungerechte afrikanische Monarch Mswati III ist zu stereotypisch, um wirklich witzig zu sein oder etwas über die Gesellschaft zu erzählen. Trotzdem erleichternd bleiben Englers Fantasie und der Mut zum komödiantischen Scheitern (dem sich – aus guten Gründen – sehr wenige zu stellen vermögen).

„Die geteilte, ‚abgehängte‘ Gesellschaft, die verärgert weiter nach rechts schlurft, kann man hier im Berliner Festspielhaus natürlich empathisch belächeln.“

Ganz andere Prioritäten hatte die Performance „Böse Häuser“ von Turbo Pascal. Mit ruhigen und bedachten Worten, die über Kopfhörer in die Ohren der Zuschauer fließen, vorgetragen in der Tonlage eines buddhistischen Achtsamkeits-Trainers, spinnen die Performer ein Netz, in das man doch möglichst bald fallen sollen. Die Manipulation ist sehr durchschaubar, das „Böse“ schon von unzähligen Journalisten analysiert worden. Die geteilte, „abgehängte“ Gesellschaft, die verärgert weiter nach rechts schlurft, kann man hier im Berliner Festspielhaus natürlich empathisch belächeln, man weiß ja, wahrscheinlich sitzt die irgendwo im Osten oder halt in bayrischen Burschenschaften, auf jeden Fall nicht hier, auch wenn sich dann zwei Zuschauerhälften gegenüber stehen, ähneln sich beide trotz oder wegen dieser Performance.

Politisch relevanter löst es die israelische Künstlerin Li Lorian in ihrer Lecture-Performance „Exodus“: Per Skype-Konferenz können sich die zumindest geographisch geteilten Zuschauer in Jerusalem und Berlin beobachten. Li Lorian verbindet die Geschichte ihrer Großmutter, die nach Israel emigrieren wollte, dort jedoch von den Briten wieder nach Europa geschickt wird, mit dem Exodus der Palästinenser, als 700.000 Palästinenser nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 vertrieben wurden. Angesichts des noch immer schwelenden Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis, des bis in die heutige Generation vererbten Flüchtlingsstatus der damals vertriebenen Palästinenser, der Frage, wem das Land gehört, und der internationalen Uneinigkeit darüber, scheint hier tatsächlich ein Finger in der Wunde zu liegen. Um so unverständlicher, warum Berlin und Jerusalem nicht noch mehr interagieren, wieso das Jerusalemer Publikum ausschließlich zum anschauen gedacht ist und diese Skype-Konferenz eine stille Zusammenkunft und nicht vielmehr ein kritisches Treffen wird.

Szenische Lesung von „1 yottabyte leben“ von Olivia Wenzel. Foto (c) Piero Chiussi

Ein Stück, das Innovation und Dringlichkeit quasi auf dem Cover trägt, ist Olivia Wenzels „1 yottabyte leben“. Während des Amoklaufs in München sitzt die Protagonistin in ihrem Hotelzimmer und surft durch das World Wide Web. Digitale Abgründe, Obszönitäten und die anonyme Verrohtheit finden sich in Chats zusammen, wobei die Protagonistin immer die überforderte Nostalgikerin bleibt, über Rassismus jammert und von analoger Liebe träumt. In Wenzels Text stecken ohne Frage gute Punchlines, an vielen Stellen machen die zivilisatorisch gesehen unterirdischen Netz-Dialoge Spaß. Meistens versteckt sich das Stück aber hinter einer Ironie-Wall und Digital-Native-Humor (Witze über Zwinkersmileys, 1leben und Hashtags finden sich mittlerweile sogar schon beim ZDF), statt den Touchscreen in Wunden zu legen, eine wirkliche Geschichte zu erzählen, konkrete Vorstellungen von den Problemen zu geben, die die Hate Speech oder die Entblößungen von Bloggern verursachen. Statt zu fragen, wie das Internet unsere Liebe verändert, und was eigentlich aus diesem Amoklauf wurde, den der Text zum Ende hin vergisst. Gemessen an dem Kriterium Innovation scheint das Internet für uns alle wirklich noch Neuland zu sein.

„Amsterdam“ gewinnt

Der Gewinner des diesjährigen Stückemarkts wurde zwischen der Chefdramaturgin des Schauspiel Köln, Beate Hein, dem Regisseur Dominic Huber und der Autorin sowie Herausgeberin des Missy Magazines, Margarita Tsomou, öffentlich ausdiskutiert. Einerseits schön, weil Kriterien, Lob und Kritik öffentlich und transparent wurden. Andererseits „diskutierten“ die Juroren harmonisch und zaghaft. Statt Fetzenfliegen und Streitkultur herrschte viel Diplomatie vor, als die drei ihre Endkandidaten „Böse Häuser“ (Turbo Pascal), „1 yottabyte leben“ (Olivia Wenzel) und „Amsterdam“ (Maya Arad Yasur) benannten. Zum Schluss koalierten alle mit Beate Hein und ihrem Wunschkandidaten, dem schlussendlichen Gewinnerstück „Amsterdam“. In „Amsterdam“ erzählen verschiedene Stimmen – indem sie sich immer wieder widersprechen und gegenseitig korrigieren – die Geschichte einer in Amsterdam lebenden israelischen Geigenspielerin, die eine Gasrechnung aus dem Jahr 1944 vor ihrer Haustüre findet. Tatsächlich beweist der Text eine einzigartige und wunderbare Qualität von Literatur, wenn er innerhalb eines Satzes von 1944 nach 2018, von der Wahrheit zur Fiktion springt und damit die Glaubhaftigkeit von Sprache in Frage stellt. Dazwischen provoziert immer wieder der israelische Humor (nach dem Wort Genozid muss grundsätzlich eine Fermate, eine individuelle Pause, gesetzt werden). „Amsterdam“ ist eine gut gebaute, spannende Geschichte – vor allem das bleibt.

„Wieso sind Ästhetik, Humor und philosophische Tiefe nicht ebenso bedeutende Kriterien wie Innovation und Dringlichkeit?“

Etwas zu schnell abgehandelt war die Performance „Fresque“ bei der Jurydiskussion, eine ästhetisch wunderschöne Komposition aus Bühne, Musik, Schauspiel und Text der Schweizer Gruppe Old Masters. Vor einer Wand aus Holzelementen und einer blubbernder Wassersäule begegnen sich ein Mann und eine Frau, sie könnten mal Liebhaber, mal Freunde, mal Kollegen sein. Sie sagen Sätze, die immer um aber nie über etwas kreisen, die nie den eigentlichen Gegenstand des Dialogs ergreifen, und dadurch Interpretationshallen aufschließen, selbstreflexiv mit Wiederholungen spielen, Banalitäten wie ein Möbelstück bis zum existentiellen Abgrund schieben, irgendwie von der Liebe sprechen, irgendwie vom Tod und irgendwie über die Gesellschaft, und dabei einen Sog entwickeln, an dessen Ende die Holzgerüste auf der Bühne unter kunstvollen Lichteffekten die Hauptrolle spielt. Eine Übernahme durch das Objekt? Eine Verneigung vor den Dingen? Die totale Fokussierung zwischen allen sanft berührten Themen? Den Juroren ging das Stück leider an „keine Schmerzgrenze“, „es tat nicht weh“.

Was die Frage aufwirft, was denn eigentlich weh tut beziehungsweise bei diesem Stückemarkt genau weh tat. Wenngleich „Exodus“ eine spannende und gelungene Annäherung an die geteilte Welt war, hinkte die diesjährige Auswahl im Gesamtbild eher schwerfällig dem Weltgeschehen hinterher. Als zöge sie all die Reissäcke hinter sich her, von denen sie fürchtet, sie könnten in China unbemerkt umfallen. Wieso sind Ästhetik, Humor und philosophische Tiefe nicht ebenso bedeutende Kriterien wie Innovation und Dringlichkeit? Nicht, dass Dringlichkeit kein Kriterium sein sollte, aber vielleicht muss man gar nicht immer den Schmerzpunkt suchen. Vielleicht machen umfallende Reissäcke auch gute Theaterabende – das nur als kleine Themenanregung.

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Marlene Knobloch

Jahrgang 1994, studiert Deutsche Literatur und Medienwissenschaft in Berlin. Sie ist Stipendiatin der Journalistenausbildung der Passauer Neuen Presse. Lebt in Berlin.

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