Drei Isländer, mindestens zehn Schweden, ungezählte Norweger und Finnen. Das Theatertreffen ist nicht nur ein Stelldichein deutschsprachiger Bühnenkunst, sondern inzwischen auch ein skandinavischen Familientreffen. Der tt-Blog sprach mit Kollegen aus Schweden und Island über die freundliche Übernahme.
Die ökologische Bilanz mag fatal sein, aber die Billigflieger haben das Theatertreffen internationaler gemacht. Seit man für wenig Geld von Reykjavik oder Stockholm nach Berlin Schönefeld fliegen kann, gönnen sich gerade die Skandinavier immer häufiger einen kurzen Abstecher in die deutsche Hauptstadt, um dort Theater zu schauen. Aufgrund der geographischen Lage orientiere man sich besonders in Südschweden viel mehr in Richtung Kopenhagen und Berlin, erklärt Per Svensson, der Theaterkritiker von Sydsvenskan, der größten Tageszeitung der Region: „We’re actually closer to Berlin than to Stockholm.“
Bedürfnis nach Authentizität
Der Journalist hat vor ein paar Jahren einige Zeit in Berlin gelebt, ist dieses Jahr aber zum ersten Mal beim Theatertreffen und das auch nur kurz. „Die Räuber“ und „Alle Toten fliegen hoch“ hat er gesehen und bei beiden Produktionen ein Infragestellen der Kunstform Theater erlebt. Trotz der Unterschiedlichkeit von Ästhetik und Dramaturgie findet er die Inszenierungen gar nicht so verschieden, sondern sehr deutsch, was das Antitraditionelle und das Vermeiden von psychologischem Realismus angeht. Das Bedürfnis nach Authentizität im Lesetheater Joachim Meyerhoffs interessiert ihn besonders. Wie vermutlich das gesamte Publikum fragt er sich, ob der Mann, der am Schluss des ersten Teils auf die Bühne kommt, tatsächlich der echte Ex-Häftling aus Meyerhoffs autobiographischer Geschichte ist. In Schweden, wo nach wie vor Realismus und Psychologie das Bühnengeschehen dominieren, seien solche Theaterexperimente eher selten, sagt Svensson. Auch deshalb führen die schwedischen Theatermacher und Kritiker wenigstens einmal im Jahr zum Theatertreffen, um die eigene Provinzialität zu kompensieren.
Theater für Germanisten
Die Theater-Biennale, das nationale Theaterfestival Schwedens, sei kein Vergleich zum kreativen Querschnitt, den das deutsche Theatertreffen vorführe, betont auch sein Kollege Roland Lysell, der für die ostschwedische Tageszeitung Upsala Nya Tidning schreibt. Das Theatertreffen kenne er seit der Steinzeit, sagt er, und erst im zweiten Moment begreife ich, dass er damit die „Stein-Zeit“ meint. „Man hat damals gesagt, dass das Theater von Peter Stein ein Theater für Germanisten sei – genau deswegen war es ein Theater für mich“, sagt der promovierte Literaturwissenschaftler. 1981 war er zum ersten Mal beim Theatertreffen und kommt seitdem fast jedes Jahr. Und was ist heute anders? Alles, sagt Lysell: „Die Ästhetik ist jetzt eine andere“, sagt er, „und das Regietheaterkonzept hat sich verändert.“ Wo Peter Stein die historische Sicht miteinbezogen habe, „hat zum Beispiel Gosch heute überhaupt kein Interesse daran, uns die Zeit Tschechows zu erklären oder lebendig zu machen.“ Trotzdem ist er zufrieden: „Die Auswahl ist dieses Jahr gut.“ Bisher habe er keine schlechte Erfahrung gemacht. Das war 2008 anders. „Die Erscheinungen der Martha Rubin“ fand der Schwede ärgerlich, denn als er die Performance-Installation um 11 Uhr morgens betrat, schliefen die meisten Schauspieler noch und die Hauptdarstellerin war einkaufen gegangen.
Reiz der Revolution
Für Haflidi Arngrimsson ist der alljährliche Streit um die Jury-Auswahl uninteressant. Der Isländer ist grundsätzlich viel im europäischen Theater – London, Paris, Stockholm, Berlin – unterwegs, um der Isolationsfalle zu entgehen, die die heimische Insellage mit sich bringt. Als Chefdramaturg des Stadttheaters von Reykjavik und Radiokolumnist ist er nach Berlin gekommen, um möglichst viel aktuelles Theater zu sehen, auch jenseits des Festivals. „Neue Formen und Stücke“ beschäftigen ihn, davon hat er dieses Jahr allerdings noch nicht viel gesehen, aber er freut sich auf Volker Löschs „Marat„-Inszenierung. Das Thema der Revolution reizt den Isländer, auch weil im eigenen Land vor ein paar Monaten gerade eine stattgefunden hat. Über das „leidige Thema“ der Finanzkrise will Arngrimsson aber nicht reden. Im Augenblick ist er aus anderen Gründen betrübt: „Ich bin ein bisschen traurig, dass Dimiter Gotscheff dieses Jahr nicht dabei ist, das ist mein Lieblingsregisseur“, sagt er und tröstet sich damit, dass er mit Birgit Minichmayr im „Weibsteufel“ wenigstens einen der Stars aus Gotscheffs erfolgreicher „Iwanow„-Inszenierung erleben kann.
Die Quotenfrage
Es dürfte den Isländer also auch freuen, dass Minichmayr zusammen mit ihren beiden männlichen Kollegen den 3sat-Preis bekommen hat für ihr emanzipationswutiges Spiel in der Inszenierung von Martin Kušej. Zu diesem Thema hätte ich gerne die norwegische Kollegin befragt, die mir leider trotz aller Verabredungsversuche entwischt ist. Dabei hätte mich besonders ihre skandinavische Frauenperspektive auf dieses männerdominierte deutsche Festival interessiert. Von ihr hätte ich gern etwas über die Vor- und Nachteile von Quotenregelungen gehört. Schließlich gibt es in Norwegen seit den achtziger Jahren gesetzliche Vorgaben, die letztes Jahr noch um eine 40-Prozent-Regel für Frauen in Aufsichtsräten ergänzt wurde. Stellen wir uns so was mal für die Intendantenposten an deutschen Stadttheatern vor. Oder für die Zusammensetzung der tt-Jury und die Auswahl der eingeladenen Regiearbeiten. So kann ich nur feststellen, dass in Restskandinavien zumindest für die Theaterkritiker der großen Medien keine Quoten zu gelten scheinen. Die sind – wie auch in Deutschland – vor allem männlich.