Ersan Mondtags Inszenierung „Das Internat“ kann beim Theatertreffen nicht gezeigt werden. Auch in Dortmund sahen den Abend nur wenige. Gesprochen wird trotzdem überall darüber. Kein Wunder: In Zeiten der medialen Allpräsenz ersetzt der Diskurs das Ereignis – bis an den Rand der Halluzination. Ein Gastbeitrag.
Aus meiner Studienzeit am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen ist die Anekdote überliefert, dass ein Student den Gastdozierenden eines szenischen Projekts im Kritikgespräch gleich zu Beginn entgegenschleuderte: „Ich habe die Arbeit nicht gesehen, aber eins muss ich sagen: Ihr seid Arschlöcher!“
Selbst erlebt habe ich Theaterleitende, die an ihrem Haus oder anderswo entstehende Produktionen meinungsstark beurteilen, ohne ihnen je beigewohnt zu haben. Das Gespür für die Qualität von Theaterarbeiten hat sich hier so untrüglich ausgebildet, dass es auf eine Wahrnehmung des besprochenen Gegenstands nicht mehr angewiesen ist. Ein Glücksfall.
Ebenfalls bezeugen kann ich Kritiker*innenbesuche, die nach der Hälfte der Inszenierung beendet wurden, aber dennoch Rezensionen über den gesamten Abend hervorbrachten – übrigens keineswegs nur Verrisse.
Nicht zu vergessen sind auch die zahlreichen Gespräche zwischen Kolleginnen und Kollegen über ungesehene Aufführungen, von denen jedoch schon gehört oder gelesen wurde, und die je nach Sympathie mit den Urhebern sowie je nach Konsequenzen für das eigene Standing mit letztgültigen Prädikaten versehen werden.
Fehlte nichts, es würde etwas fehlen
Auch das Publikum spielt dieses Spiel äußerst gern und lässt sich nicht davon beirren, bei einem Theaterabend nicht anwesend gewesen zu sein, um ihn dennoch herzerfüllt scheiße zu finden. Oder gut. Oder – die hohe Kunst – genauso wie die anderen Arbeiten der betreffenden Künstler*innen.Es ist also offensichtlich: Am besten spricht es sich über Theater, bei dem man nicht dabei war. Da kann es einem nicht in die Quere kommen.
Darum wäre es fatal, hätte das diesjährige Theatertreffen keine Inszenierung, die es nicht zeigen könnte. Es würde ihm etwas fehlen: das Fehlen.
Dieses Mal aber kommt zu dem Umstand der nicht-zeigbaren Produktion noch hinzu, dass dem dafür hauptverantwortliche Künstler während des Festivals der renommierte 3sat-Theaterpreis verliehen wird. Entsprechend kam es am ersten Festival-Samstag zur bemerkenswerten Situation, dass sich etwa 150 Leute im Haus der Berliner Festspiele einfanden, um einem anwesenden Regisseur und seiner abwesenden Inszenierung zu huldigen.
Ich habe „Das Internat“ bisher nicht gesehen. Und so, wie die Dinge stehen, wird es auch keine Chance mehr geben, das nachzuholen. Ich muss mich also auf Worte verlassen – Worte, die während der Preisverleihung gesprochen wurden, die in Kritiken stehen, in Ankündigungstexten, Begleitmaterialien und natürlich jene aus Erzählungen von Menschen, die da waren. Zudem gibt es den einen oder anderen Trailer sowie ein paar Fotos. Man ist also gar nicht so schlecht ausgestattet, wenn man versucht, sich einen Eindruck einer Theaterarbeit zu verschaffen, die man nicht erleben konnte. Das ist trügerisch. Wenn ich es selbst nur genügend möchte, kann ich glauben, ich wüsste mit all den Sekundärmaterialien genug, um im Grunde dabei gewesen zu sein. Dann traue ich mir zu, den Graben, der mich von der Erfahrung trennt, überspringen und mithilfe der zugänglichen Dokumente aufs Erlebnis hin abstrahieren zu können. Von dieser Beobachtung ausgehend, könnte man in zwei verschiedene Richtungen weiterdenken: eine romantische und eine funktionale.
Das Romantische und das Funktionale
Romantisch betrachtet ließe sich sagen: Die Annahme, man könne aus ein paar Dokumenten rekonstruieren, wie es gewesen wäre, bei einem Theaterabend dabei gewesen zu sein, ist reine Hybris. Die tatsächliche Theatererfahrung kann nicht ersetzt werden, weil sich Theater überhaupt nur in der Situation der Aufführung vollzieht. Sich danach ein paar Texte durchzulesen, ein paar Bilder anzugucken und ein paar Leute zu fragen, wie sie’s fanden, um anschließend zu meinen, man wüsste, wie diese Inszenierung „war“ oder „ist“, verleugnet eben jenen Aspekt des geteilten Ereignisses, auf dem diese Kunstform letztlich beruht.
Aus funktionaler Perspektive möchte man entgegnen: Man kann sehr wohl nachvollziehen, was auf der Bühne passiert ist. Man kann anhand der zur Verfügung stehenden Daten eine Vorstellung des Stoffes, der inhaltlichen Aspekte sowie der ästhetischen Signatur einer Inszenierung entwickeln. Man kann auf Grundlage bisheriger Seherfahrungen (gegebenenfalls sogar mit Aufführungen derselben Künstler*innen) Atmosphären, Spannungsbögen, Virtuositäten und Publikumsreaktionen antizipieren. Man kann die Urteile anderer gegeneinander abwägen und zu einem eigenen amalgamieren. Man kann, man kann, man kann. Man muss nicht ins Theater gehen, um zu wissen, wie das Theater war.
Meine Darstellung ist tendenziös. Sie verbirgt nicht, welcher Sichtweise ich zugeneigter bin. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass keineswegs jeder Theaterbesuch eine intensive Erfahrung bereithält. Und natürlich kommt es auch auf den Blick an, mit dem auf eine Inszenierung geschaut wird: Was will man von ihr? Sie als künstlerische Arbeit wahrnehmen oder auf Verwertbarkeiten, Buzzwords und Reaktionen abklopfen?
Ein Effekt des mittlerweile zur festen Institution avancierten Online-Theaterkritik-Portals nachtkritik.de ist es, den im Theaterbetrieb Tätigen einen vorsortierten Überblick darüber zu verschaffen, was in der deutschsprachigen Theaterlandschaft passiert. Ergänzt um die Funktion der „Kritikenrundschau“, die unter dem eigenen Artikel Zusammenfassungen von Texten anderer Presseorgane aufbietet, und ausgestattet mit einer lebendigen Kommentarfunktion entsteht der Eindruck eines Meta-Mediums, das zuerst die aktuell relevanten Produktionen und sodann alles Relevante zu den relevanten Produktionen versammelt. Das ist natürlich ungemein praktisch – und erleichtert das Reden und Urteilen über ungesehenes Theater.
Den nachtkritik-Artikel zu einem Theaterabend gelesen zu haben, gilt branchenintern mittlerweile als veritabler Ersatz für einen Besuch der Vorstellung. Man weiß, was abgeht. Man weiß, wie es war. Man weiß, was andere darüber denken und wird so selbst aussagefähig. Faszinierender Weise ändert dann auch das pflichtbewusst vorangestellte „Ich habe die Arbeit nicht gesehen, aber…“ (siehe oben) nichts an der Sicherheit des sich daran anschließenden Urteils.
Bezahlt fürs Beschimpftwerden
Nun ist die Existenz dieses Online-Portals unterm Strich ein großes Glück für die deutschsprachige Theaterlandschaft, da es das Theaterfeuilleton vor einem Tod auf Raten bewahrt und tatsächlich einen ernst zu nehmenden und ernst genommenen neuen Raum für den Theaterdiskurs etabliert hat. Gleichwohl bringt diese neue mediale Konstellation eben auch neue Mechanismen und Dynamiken hervor. Die Zunahme der Bequemlichkeit im Beurteilen ungesehener Theaterarbeiten ist eine davon.
Auf dem Theatertreffen 2019 kann also niemand Ersan Mondtags „Das Internat“ erleben. Und in gewisser Weise passt es, dass ausgerechnet diese Produktion den Weg nach Berlin nicht geschafft hat, denn über Ersan Mondtag und seine Inszenierungen wird gern und intensiv in absentia geredet. Die Gründe für das Nichtzustandekommen des Gastspiels aus Dortmund waren im Vorfeld des Festivals Gegenstand intensiver Debatten bis hin zu reißerischen Gerüchten über eine vorgezogene Machtprobe zwischen dem Dortmunder Intendanten Kay Voges und Mondtag, weil beide ein Auge auf die künftige Leitung der Volksbühne geworfen haben sollen. Im Zuge dessen wurden außerdem Unzufriedenheiten mit Mondtags Regiestil publik gemacht, die auch (aber nicht nur) in Zusammenhang mit seiner Arbeit am „Internat“ standen und vor allem die von Mondtag selbst geäußerten moralischen Ansprüche über zwischenmenschlichen Umgang zu unterlaufen schienen.
Zusätzlich angeheizt wird diese Diskussion mit der sprengstoffgeladenen Frage, ob ein äußerst erfolgreicher, schmerzbefreit auftretender, junger, türkischstämmiger Regisseur größtenteils anders (nämlich ungerechter) beurteilt wird als ältere, biodeutsche Regiedespoten. Und so weiter, und so fort. Debattenstoff jedenfalls, der sich am besten in einem Raum diffusen Halbwissens ausbreiten lässt. Weniger real präsentes „Internat“ beim Theatertreffen führte so zu mehr Sprechen über die Reizfigur Ersan Mondtag, was womöglich auf eine Weltsicht frei nach Harald Schmidt hinausläuft, nach der ein Starregisseur nicht so gut dafür bezahlt wird, dass er tolle Inszenierungen macht, sondern dafür, dass er beschimpft werden darf. Oder weniger polemisch: Dafür, dass er aushalten muss, dass in jeder erdenklichen Weise über ihn gesprochen und geschrieben wird.
Nun gehört das skandalisierende Reden über Theater zum Theater gewissermaßen dazu. Charakteristisch für dieses Reden ist aber eben auch, dass es sich bisweilen weit von seinem ursprünglichen Gegenstand entfernen und eine Eigendynamik entwickeln kann, die schwer bis gar nicht wieder einzufangen ist. Dann guckt man erstaunt, mithin fassungslos dabei zu, wie sich bestimmte Meinungen, Urteile und Interpretationen zu einer unumstößlichen Wand aus Gewissheiten über eine Theaterinszenierung verdichten. Finden solche diskursiven Verfestigungsprozesse statt, ohne dass die daran Teilnehmenden ihrerseits überhaupt an der besagten Aufführung teilgenommen haben, wird die Situation grotesk. Die Frage wäre, ob auch diese Grotesken nun mal zum Theater dazugehören oder besser vermieden werden sollten.
Über wirklich Erlebtes lässt sich nur versehrt sprechen
Worin aber unterscheidet sich nun das Reden über eine tatsächlich erlebte Theateraufführung vom Reden über eine, bei der man nicht zugegen war? Die Frage scheint tautologisch und die Antwort entsprechend leicht: eben dadurch, dass das eine Sprechen sich auf das reale Erleben berufen kann, das andere aber nicht. Doch wann und wie merkt man einem Sprechen oder Schreiben diesen Unterschied überhaupt an? Ich würde sagen, wenn es versehrt ist.
Lässt man sich von dem Erleben einer Aufführung in irgendeiner Weise aus dem Konzept, also aus seiner Sprache, also aus dem Reich seiner Kategorien und Überzeugungen bringen? Ist das eigene Sprechen über eine Inszenierung ein beschädigtes Sprechen? Ein suchendes? Wenn nicht, spricht man über die Aufführung wahrscheinlich so, als hätte man sie nicht gesehen, sondern nur davon gehört.
Die Äußerungen über eine erlebte Inszenierung müssten demnach ein Mal tragen, eine Versehrtheit beinhalten, sofern sie tatsächlich vom Erlebten gekennzeichnet sein wollen. Es ist klar, dass das nach einer irrelevanten Theateraufführung, bei Schnittchen und Bier, auf dem schnellen Weg zur S-Bahn, inmitten unangenehmer Gesellschaft, Langeweile oder Unlust oder eben (im professionellen Fall) unter gehetztem Formulierungsdruck und miserabler Bezahlung oft nur schwer der Fall sein kann. Und doch: Nur, wenn sich eine Sprachlosigkeit ins Sprechen setzt, wird auch von einer Erfahrung gesprochen. Wo so gar keine Sprachlosigkeit herrscht, da war auch kein Ereignis.
Deswegen sollte man sich in der Tat vor denen in Acht nehmen, „die so unglaublich gut Bescheid wissen“, wie Ersan Mondtag es in seiner Dankesrede bei der Verleihung des 3sat-Preises ausdrückte. In Acht nehmen vor denen, die nicht wahrhaben wollen, „dass da ein Horror auf der Bühne ist“ – ein Horror, der einen wunden Punkt des gleichsam faszinierenden wie beunruhigenden Nichtverstehens ins Denken pflanzt und den man nur erleben kann, wenn man sich mit im Raum befindet.
Das ist ein oft nicht eingelöstes und dennoch unverzichtbares Potential des Theaters, das unter allen Umständen verteidigt werden muss. Es im Bescheid wissenden Sprechen zu ersäufen – womöglich gar, ohne bei einer Aufführung zugegen gewesen zu sein – bedeutet Verrat.
Falk Rößler studierte Medienwissenschaft und Angewandte Theaterwissenschaft. 2011 gründete er mit Nele Stuhler & Stephan Dorn die Theatergruppe FUX, deren Arbeiten an zahlreichen Häusern im deutschsprachigen Raum gezeigt werden. Daneben arbeitet er als Regisseur, Musiker, Performer und Publizist. Falk Rößler war Autor für das Theatertreffen-Blog 2016.