Stichtag 9. Mai 2011: Beim heutigen Zensus wird Deutschland durch den Fragebogen gedreht. Auch im Theater versucht man sich bei Publikumsumfragen in der Kunst der richtigen Kästchenwahl, in der tt-Jury hingegen hatte ein Kritikerfragebogen keine Chance. Wie berechenbar sollen Welt und Theater sein?
Ein Fragebogen hat ja im Grunde etwas Dankbares: Die Fragen lassen sich prinzipiell immer beantworten. Und so endet das Ausfüllen meist mit dem guten Gefühl, der Welt beigekommen zu sein. 82 Millionen Deutsche, 400 Theaterinszenierungen pro Jahr – wie könnte man sonst bloß Ordnung in diese Überfülle bringen?
Im Herbst 2010 stand auch der Theatertreffen-Leitung der Sinn nach letztbegründbarer Struktur: Sie überreichte ihrer Jury einen Fragebogen mit diversen Kategorien und Kriterien (zum Beispiel „zukunftsweisend“, „unkonventionell“, „den Zeitnerv treffend“) zur Bewertung von Inszenierungen. Die Anweisung „Sie müssen zum Schluss auf eine Gesamtzahl von insgesamt 16 Punkten kommen“ glich einer Aufgabe für Grundschüler; die Degradierung des Kritikers zum Beamten einer Berufsstolzverletzung. Die Jury tat das einzig Mögliche, um dem Theater nicht Unrecht zu tun: Statt Rasterfahndung nach den bemerkenswertesten Inszenierungen behielt sie ein Auge auf das, was durchs Raster fiel. Weil Theater noch immer dann am meisten interessiert, wenn es ausrastet, ob nun die Schauspieler auf der Bühne oder die eigene Wahrnehmung.
Natürlich macht es Sinn, zu wissen, wie viele Kindergärten, Schulen und Altersheime Deutschland in Zukunft braucht. Aber in der Berechenbarkeit der Welt, die ein Fragebogen vorgaukelt, liegt auch eine große Gefahr, denn der Fragebogen ist nicht unschuldig, sondern eine gezielte Suchmaschine. Er ist dem zufriedenen Konsumenten, dem staatsgetreuen Bürger, dem glücklichen Theaterbesucher auf der Spur.
Wenn die Welt so ausgerichtet wird, dass wir im Supermarkt nur noch die Produkte finden, die wir mögen, im Theater nur noch die Inszenierungen sehen, die uns gefallen und bei Google nur noch die Antworten auf die Fragen bekommen, die wir schon kennen, dann werden wir mit uns selbst gleichgeschaltet. Kurzschluss.
Was also tun? Kleine Täuschungsmanöver einbauen. Bei Google Search zuerst die Resultate auf Seite 12 anklicken. Die eigene Happy-Digits-Karte beim Einkauf für die Oma zücken. Im Theater dem Urteil von Experten und germanistisch bewanderten Kollegen grundsätzlich misstrauen. Sich Stücke mit schlechten Kritiken anschauen. Einen radikal subjektiven Standpunkt wagen und pflegen. Auf Random und Randgruppe statt auf Mainstream-Medien und -Meinungen setzen. Blogs lesen. Falsche Zeichen geben und sich falsch einschätzen lassen. Das ist die Kunst des gezielten aus der Zielgruppe Fallens.
Nicht nur der Fragebogen, auch das Theater ist eine Suchmaschine. Es sucht Antworten, vor allem aber neue Fragen. Darum endet dieser Text auch mit einer, und zwar an den tt-Juror, der stellvertretend für seine Jury-Kollegen in „Theater heute“ vehement gegen den Fragebogen protestiert hat: „Was ist denn eine wirklich gute Frage, Franz Wille?“