Wie missbräuchlich sind die Arbeitsweisen am Theater? Darüber wird gestritten. Unsere Autorin will trotzdem Regisseurin werden – und glaubt, dass Gewalt dabei in Zukunft keine Chance mehr hat.
Seit einem halben Jahr studiere ich zusammen mit fünf weiteren Frauen Theaterregie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Wir sind der erste reine Frauenjahrgang in der Geschichte der Berliner Schauspielschule. Die Stimmung ist prächtig und kampfbereit. Neben dem Glücksfall gegenseitiger Sympathie eint uns ein Bekenntnis zum Schulterschluss. Denn wir haben erkannt, dass wir einen Gegner haben, der größer ist als die Rivalität unter Kolleginnen: das Schweinesystem.
Auf dem Wellenkamm gesellschaftlicher Veränderungen
Als sich nach der Aufnahmeprüfung im Frühjahr in meinem Bekanntenkreis herumsprach, dass wir eine reine Frauenklasse werden, reichten die Reaktionen vom zitronengesichtigen „Ua, Zickenalarm!“ über fürsorglich-verstimmtes „Ob das wohl gut geht?“ hin zur blanken Begeisterung. Ausnahmslos jeder hatte eine Meinung zu der Aussicht, dass sechs Frauen für Leitungspositionen im Theater ausgebildet würden. Ich selbst, eher auf Seiten der Begeisterten, wunderte mich doch langsam, was für eine Absonderlichkeit die Idee eines Raums voller kreativer Frauen immer noch zu sein scheint – und wie sehr die Frage, wer wir persönlich oder professionell sind, dabei hinter die scheinbar absolute Relevanz unseres Genders zurückfällt. Nun sind Monate vergangen, mit #metoo hat die Einsicht, dass es möglich ist, sich zu wehren, endlich auch den deutschen Theaterbetrieb (Stichwort: Schweinesystem) erreicht, und ich wage ein Gedankenexperiment: Würden in einer Parallelwelt, die unserer auf ein paar Monate und sechs Y-Chromosomen gleicht, die Reaktionen wohl ähnlich emotional ausfallen, wenn ich, Theodor Thomasberger, heute in eine reine Männerklasse aufgenommen worden wäre?
Ich glaube: Ja.
„Wenn heute an eine Institution ein rein männlicher Führungsstab berufen, eine reine Männerklasse an einer Hochschule aufgenommen wird, dann wird das ab jetzt in Frage gestellt werden.“
Die westliche Welt surft gerade auf dem Wellenkamm einer gesellschaftlichen Verwandlung. Es ist ein seltsamer Punkt in der Geschichte, an dem feministisches mit brechtschem Denken zusammenfällt: aus Gewissheiten werden allerorts Fragen. Während so mancher Probleme hat, nicht vom Brett zu fallen, kommt neues Bewusstsein darüber auf, dass die Strukturen, die unser Leben ordnen, menschengemacht sind. Selbst an der als veränderungsunwillig geltenden HfS „Ernst Busch“ weht vorsichtig neuer Wind durch die Gänge. Im Unterricht werden Rollenklischees und gegenderte Machtstrukturen diskutiert, auf dem Stundenplan stehen Seminare zur gewaltfreien Kommunikation, unter den Schauspielstudentinnen wird der Ruf nach neuen Rollen und zeitgemäßerer Literatur laut.
In und außerhalb der Schule ändert sich die Art, wie gesprochen und gedacht wird: Was bisher Kantinenklatsch und damit Privatproblem war, wird jetzt öffentlich als strukturelles Phänomen verhandelt. Es werden Briefe geschrieben, Treffen veranstaltet, Vereine wie Pro Quote Bühne gegründet, in den Hochschulen sprießen die Gleichstellungsbeauftragten aus dem Boden. Ich bin davon überzeugt, dass diese Bemühungen nicht umsonst sein werden: Wenn heute an eine Institution ein rein männlicher Führungsstab berufen, eine reine Männerklasse an einer Hochschule aufgenommen wird, dann wird das ab jetzt in Frage gestellt werden. Wenn ein despotischer Regisseur oder ein übergriffiger Professor eine Grenze übertritt, dann wird eine unterdrückte Schauspielerin heute eher den Mut finden, sich zu widersetzen, als vor ein paar Jahren, sogar ein paar Monaten.
Die Regie, der Sex und die Angst
Natürlich sind damit nicht alle einverstanden. Man hört auf so mancher Probebühne, liest in so manchem Artikel immer wieder dieses Argument, dass Theatermachen, insbesondere Regieführen, eben ein Beruf sei, der seiner Natur nach übergriffig ist. Weiter geht es dann damit, dass Schauspielen ja eine körperliche und persönliche Angelegenheit sei. Da muss man Verletzungen schon mal aushalten können. Der Geniebegriff als alles legitimierendes Kampfmittel gegen sogenannte „kunstfeindliche“ Meinungen lässt dann endgültig jede inhaltliche Diskussion vor Scham in der Unterbühne versinken.
Diese Art der Beweisführung ist nicht nur menschenverachtend, sondern diffamiert einen gesamten Berufsstand inklusive derjenigen, die ihn lieben und versuchen, nach bestem Wissen und mit größtmöglichem Respekt auszuüben. Sie beruht auf einer Weltsicht, die Macht mit Machtmissbrauch, Sex mit Vergewaltigung verwechselt.
„Wer ernsthaft denkt, dass Theater nur durch strukturelle Gewalt gemacht werden kann, der sollte sich fragen, ob er wirklich den richtigen Beruf gewählt hat.“
Klar, das ist ein Beruf, in dem man mit dem eigenen Körper und, schlimmer noch!, mit der eigenen Seele arbeitet. Und ja, es kommt vor, dass man sich wehtut. Manchmal fällt ein Scheinwerfer aus dem Schnürboden und manchmal gibt es einen Konflikt zwischen Positionen, die so antagonistisch sind, dass am Proben- oder Unterrichtsende Tränen fließen. Ich denke da an Konflikte ausgelöst durch kulturelle Unterschiede, durch ernsthafte selbstreflexive Debatten über das Theater, über Inhalt und Auslegung des Stoffs, über die Farbe der Kostüme. Konflikte, an deren Ende nicht alle einer Meinung sind, man sich aber bei der Premierenfeier dennoch kollegial zuprosten kann. Für solche Konflikte lohnen sich die Tränen. Und wenn sie zwischen Menschen ausgetragen werden, die menschlich miteinander umgehen, stehen die Chancen nicht schlecht, dass am Ende beide weinen (oder lachen oder schreien).
Ein Problem gibt es nur dann, wenn die Atmosphäre so vergiftet ist, dass der/die in der Hierarchie weiter unten stehende Angst hat, zurückzuschreien. Wenn das vielzitierte Klima der Angst die Atmosphäre so menschenfeindlich gemacht hat, dass der Planet Bühne unbewohnbar geworden ist. Strukturelle Gewalt aber mit jenem dem Theatermachen innewohnenden und gern in Kauf genommenen Risiko auf Versehrtheit der eigenen Denk- und Redeposition zu verwechseln, ist im besten Fall dumm, im schlimmsten gefährlich.
Die Idee ist gut und die Welt für sie bereit
Dieser Denkfehler ist nicht nur leicht zu widerlegen – wer noch nie eine Regieperson getroffen hat, die ihr Ensemble nicht als Menschen ohne Persönlichkeitsrechte betrachtet, der hat an dieser Stelle unser Mitleid verdient – sondern widerspricht auch jedem Anspruch auf utopistisches Arbeiten. Und ging es uns beim Theater nicht gerade darum? Wer ernsthaft denkt, dass Theater nur durch strukturelle Gewalt gemacht werden kann, wer glaubt, ein gutes Stück braucht die systematische Unterdrückung von Frauen und Männern, auf, vor, und hinter der Bühne, der sollte sich fragen, ob er wirklich den richtigen Beruf gewählt hat.
Zurück zum Optimismus. Das Theater ist der Ort der Verwandlung. Gerade jetzt sind wir Zeugen seiner eigenen Verwandlung. Und das ist nichts Besonderes: Diese Zauberkunst ist das ureigenste Geschäft des Theaters. Augusto Boal, der in Anschluss an Brecht das Theater der Unterdrückten entwickelte, sah im Theaterspielen eine Möglichkeit der Bewusstwerdung. Durch das Spielen, das Probehandeln auf der Bühne, werden wir uns unserer eigenen Position im System der Unterdrückung bewusst. Und das Bewusstwerden ist der erste und wichtigste Schritt zur Solidarisierung. Und damit zur Veränderung. Lasst uns jetzt nicht den Mut verlieren! Im Theater wird man sich gerade über so einiges bewusst.