Vielfalt vom Theater lernen

Der Journalismus ringt um mehr Diversität - und fährt dabei doch oft nur Scheinerfolge ein. Unsere Gastautorin findet: Gerade vom Prinzip des Theaters ließe sich ableiten, wie echte Diversität zur Normalität werden könnte.

Der Journalismus ringt um mehr Diversität – und fährt dabei doch oft nur Scheinerfolge ein. Unsere Gastautorin findet: Gerade vom Prinzip des Theaters ließe sich ableiten, wie echte Diversität zur Normalität werden könnte.

Diversität hat eine steile Karriere gemacht. Vor gar nicht so langer Zeit stand „Diverses“ vor allem als letzter Tagesordnungspunkt auf Sitzungslisten, um alle Themen zusammenzufassen, zu denen man wahrscheinlich nicht mehr kommen würde. Heute ist Diversität/diversity/Vielfalt ein buzzword. Von den einen wird es auf Plakate geschrieben, die sie vor sich hertragen (zum Beispiel am 19. Mai bei der „Unite & Shine-Demo“ von „Die Vielen“) – von den anderen wird es als Feindbild bekämpft. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Europawahlkampf hatte kürzlich das wenig überraschende Ergebnis, dass spalterische Positionen im Internet mehr Reichweite haben, vor allem rechtspopulistische Player geschickter durch die digitalisierte Öffentlichkeit navigieren als liberale Befürworter*innen einer toleranten, pluralistischen offenen Gesellschaft.

Dabei ist eines der Hauptmerkmale der digitalisierten Öffentlichkeit ja gerade ihre zuweilen ohrenbetäubende Stimmenvielfalt – in der althergebrachte Hierarchien unterlaufen werden. Traditionelle Foren der Öffentlichkeit, also die „alten Medien“ Rundfunk, Fernsehen und Print, aber auch das Theater als gesellschaftliche Begegnungsstätte, stehen unter Druck – und schlagen sich in Offenen Briefen und öffentlichen Statements zunehmend auf die Seite marginalisierter Gruppen, die schon lange darum kämpfen auch gehört und gesehen zu werden. „Dieser ‚Minoritätenlärm‘ wird nie mehr aufhören“, sagte Berliner Festspiele-Intendant Thomas Oberender in seiner Eröffnungsrede zum diesjährigen Theatertreffen.

Sozialmedial inszenierter Rechtsruck

Im Journalismus kommen die Impulse zur Diversifizierung weniger aus den Institutionen beziehungsweise Redaktionen selbst als vielmehr aus aktivistischen Netz-Communities, wie auf der diesjährigen Re:publica der Multimedia-Journalist Malcolm Ohanwe vom Bayerischen Rundfunk berichtete: Hashtag-Kampagnen wie #MeTwo oder #VonHier, in denen PoC von ihren Diskriminierungserfahrungen schreiben, hätten einiges ins Rollen gebracht, sagte Ohanwe. Redaktionen würden diverser, was die Sensibilität für Positionen jenseits des „Normalen“ verstärke. „Aber immernoch bekomme ich wegen meiner Hautfarbe bestimmte Themen zugeordnet.“

Die taz-Redakteurin und Schriftstellerin Fatma Aydemir nennt dieses Phänomen im Sammelband „Eure Heimat ist unser Albtraum“ „Tokenism“: „Jene von uns, die es irgendwie in einen ‚weltoffenen‘, wenn auch weiß dominierten Betrieb geschafft haben, erleben leider zu oft den Effekt des „Tokenism“: ‚Natürlich sind wir divers. Wir haben doch Fatma!’“, schreibt Aydemir. „Ja, aber jede vierte Person in Deutschland hat eine Migrationsgeschichte. Sofern dieser fiktive Betrieb also nicht nur aus vier Personen besteht, hält Fatma nur als Token hin – als Stellvertreterin einer Minderheit, die Chancengleichheit simulieren und über Strategien zur Erhaltung von Machtstrukturen hinwegtäuschen soll.“

Die mediale Berichterstattung zum Thema Migration von 2015 bis heute
untermauert Aydemirs pessimistischen Blick. Willfährig haben große
Zeitungen und öffentlich-rechtliche Talkshows den von der AfD sozialmedial inszenierten politischen Rechtsruck mitvollzogen und sich vom „Sommer der Willkommenskultur“ (#RefugeesWelcome-Kampagne in der BILD Zeitung) um 180 Grad gedreht („Seenotrettung: Oder soll man es lassen?“, in der ZEIT im Juli 2018). Würden die Redaktionen in ihrer Diversität tatsächlich die Einwanderungsgesellschaft widerspiegeln, in der wir in Deutschland schon lange leben, wäre zu diesem Thema ganz bestimmt so manches anders gelaufen.

Rückzug in die kleinste Nische

Die Kulturberichterstattung bewohnt eine nette Nische. Nachteil: kleine Reichweite, Vorteil: mehr Experimentierfreiheit, weil weniger geballte Aufmerksamkeit und damit auch weniger Geld auf dem Spiel stehen. Diversität beziehungsweise Diversifizierung haben es aber auch hier schwer. Denn die Kritik als Königsdisziplin des Feuilletons hängt am Gedanken eines Referenzen-Kanons, den der*die Kritiker*in mit ihrer Leserschaft teilt. Eine Öffnung für neue Leser*innen bedeutet auch eine Öffnung dieses Kanons, bedeutet Unübersichtlichkeit und Verunsicherung. Oder den – populären – Rückzug in noch kleinere Nischen, die Aufgabe des Gedankens der „größeren Öffentlichkeit“ und damit auch: des Anspruchs auf Diversität, die ja schließlich nur bekommen kann, wer bereit ist, Differenzen anzuerkennen und auszuhalten statt sich zurückzuziehen unter Gleichgesinnte.

Beim Theatertreffen lag lange die größte Aufmerksamkeit auf der Zehner-Auswahl der unabhängigen Kritiker*innen-Jury. In den letzten Jahren nimmt das Rahmenprogramm zu den zehn Gastspielen der „bemerkenswertesten Inszenierungen“ immer mehr Raum ein. Damit überlagert ein zentral kuratiertes Programm mit Themenschwerpunkt zunehmend ein Programm, das unter unabhängigen Expert*innen unter Begutachtung der gesamten deutschsprachigen Theaterlandschaft ausgefochten worden ist – im Geiste der Diversität.

Minoritätenlärm muss Mehrheitslärm werden

„Diversität ist nicht nur eine Frage der kulturellen Herkunft, sondern auch der politischen Haltung“, sagte die Kulturjournalistin Seyda Kurt letztes Jahr in einem Interview „In der AfD gibt es etwa viele junge Leute mit Migrationsgeschichte, die akzeptiert werden. Das aber nur, weil sie herrschende Machtstrukturen nicht in Frage stellen und sich bedingungslos anpassen. Ihr Aktivismus macht die Welt nicht besser. Auf der anderen Seite kann es alte, weiße Männer in progressiven Bewegungen geben, die sich dafür einsetzen, dass sich der Gang der Dinge ändert – auch in Redaktionen.“

Wenn Diversität eine echte Chance haben soll, dann muss sie zuerst als Frage der politischen Haltung gesehen werden. Seyda Kurt gibt mit ihrer Argumentation der repräsentativen Demokratie eine Chance und bedient sich zugleich der Freiheit des Theaters – der Freiheit des Als Ob, der Entscheidung, nicht nur für die Gruppe zu sprechen, der man auf den ersten Blick zugeordnet wird. In Blackfacing– und Rassismusdebatten derletzten Jahre wurde diese Freiheit in der Theaterwelt immer wieder von einer „Zensur des politisch Korrekten“ bedroht gesehen. Dabei weist sie den Weg, auf dem Diversität vom buzzword zur gelebten Normalität werden kann. Aber nur, wenn alle mitspielen (also unter Umständen Macht und Aufmerksamkeit abgeben) und der „Minoritätenlärm“ zu einem Mehrheitslärm wird.

Sophie Diesselhorst, Jahrgang 1982, hat Philosophie und Kulturjournalismus studiert. Seit 2005 ist sie von Berlin aus als freie Autorin und Redakteurin für verschiedene Print- und Online-Medien tätig. Sie ist Redakteurin bei nachtkritik.de und war Mentorin beim Theatertreffen-Blog 2011.

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Janis El-Bira

Janis El-Bira, Jahrgang 1986, studierte Philosophie und Geschichtswissenschaften in Berlin und arbeitet seitdem als freier Journalist mit Theaterschwerpunkt. Er ist Redakteur beim Theaterportal nachtkritik.de und moderiert seit 2016 die Sendung „Rang 1 – Das Theatermagazin“ im Deutschlandfunk Kultur. Texte und Beiträge zudem u.a. für die Berliner Zeitung, SPEX, Tagesspiegel, Deutschlandfunk Kultur und SWR2. Leitete von 2016 bis 2021 das Theatertreffen-Blog der Berliner Festspiele.

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