Die Schauspielerin Jutta Lampe wurde am Samstag in der Akademie der Künste in Berlin mit dem Joana-Maria-Gorvin-Preis ausgezeichnet. Die Preisverleihung war nicht nur Feier ihres Lebenswerks, sondern geriet auch zum Abgesang auf eine Theatergeneration.
In der Schlange, die sich vor dem Einlass in den Zuschauerraum der Akademie der Künste gebildet hat, bin ich mit Abstand eine der Jüngsten. Weiße und melierte Schöpfe herrschen vor, gediegene Abendgarderobe, eine der Wartenden hat sich sogar einen kleinen Klapphocker mitgebracht, um nicht so lange stehen zu müssen.
Die Theatergeneration, die sich hier versammelt hat, um dem Lebenswerk der 72-jährigen Jutta Lampe zu huldigen, kenne ich nur aus Theaterwissenschaftsseminaren, in denen braunstichige Peter Stein-Inszenierungen auf Video gezeigt wurden (war es ein Tschechow-Stück, stand garantiert ein Samowar auf der Bühne), und aus Anekdoten, die ältere Regisseure und Dramaturgen auf Premierenpartys erzählen. Die Schaubühne der siebziger und achtziger Jahre, die Lampes künstlerische Heimat war, ist für mich ebenso weit weg wie Brecht und Gründgens – Epochen, die in Vorlesungen auf die wichtigsten ästhetischen Ansätze, Inszenierungen und Künstler zusammengefasst werden.
Der verstaubt wirkende, muffige Fünfziger-Jahre-Saal der Akademie der Künste passt gut zu dieser ganzen Veranstaltung. Auch der erinnert an längst vergangene Zeiten und Moden, der Bau, den die Architekten Werner Düttmann und Sabine Schumann da ins Hansaviertel gestellt haben, galt sicher einmal als ultramodern und schick. Es fällt mir schwer, mir das vorzustellen. Noch schwerer fällt es mir allerdings, in meinen Kopf zu bekommen, dass die Künstler, die sich zur Preisverleihung auf der Bühne versammelt haben, mal die jungen Wilden waren, die das Theater revolutioniert und umgekrempelt haben. Dass Peter „gähn“ Stein, dessen letzte total revolutionäre und voll wilde Idee darin bestand, einfach mal keine Striche in die Textfassung zu malen, einmal neu und modern war.
In der Reihe hinter mir tauschen zwei Damen Stargeflüster aus: „Die Edith Clever, die hat sich ja kaum verändert in den letzten zwanzig Jahren.“ „Das stimmt, der Otto Sander hingegen sehr, aber ich glaube, der kriegt auch Bestrahlung. Und eben der eine im Foyer, das muss der Peter Stein gewesen sein, den haben ja auch Leute angesprochen, aber der war so spröde!“ Kurze Pause. „Seit wann bist du denn eigentlich schon in Berlin?“ „Na, seit ’68, da war ich gerade 21, da ging hier die Lucy ab!“ „Ach, jaja.“ Schweigen.
Die Zeit dieser Theatergeneration ist abgelaufen
Als Peter Stein für seine Laudatio auf die Bühne kommen soll, verzichtet er auf die an der Seite stehende Treppe und springt schwungvoll über die etwa einen Meter hohe Rampe. Applaus und anerkennendes Raunen im Publikum. Als danach Peter Iden angekündigt wird, tuscheln die Damen hinter mir: „Na, ob der Iden auch raufhüpft?“ „Nee, das schafft der nicht mehr!“
Eines wird an diesem Abend sehr deutlich: Wie sehr sich diese Theatergeneration darüber im Klaren ist, dass ihre Zeit vorbei ist und sie abgedankt hat. Das äußert sich in der Rede von Edith Clever auf eine sehr wehmütige Weise, bei Peter Stein ein bisschen bockiger und komplett verbittert in der Laudatio von Botho Strauß, die von Hanns Zischler verlesen wurde.
In Strauß‘ Rede tönt aus jedem Satz Verachtung für die heutigen Theatermacher, die nicht erkennen, dass an der Schaubühne vor dreißig Jahren das einzig wahre und beste Theater stattfand, das jemals gemacht wurde. Gerne würde ich hier passagenweise zitieren, das darf ich aber nicht. Das hat Botho Strauß mir nämlich nicht erlaubt. „Abdruck, auch in Teilen und Zitaten, nur mit Genehmigung des Autors“, sagt die Pressemappe. Leider steht Botho Strauß‘ Handynummer weder daneben noch im Telefonbuch, noch ist am Sonntag irgendeine Verlags- oder Akademiepressestelle besetzt. Wie schade, denn ich würde hier so gerne hinschreiben, was Strauß so denkt, besonders über das postdramatische Kabarett. Wahre Kunst bestehe darin, auf der Bühne umeinanderzustreichen, man baut sich nicht an der Rampe auf und erbricht seinen Text. Strauß macht sich keine Illusionen darüber, dass die Schaubühnenzeit unwiderbringlich vorbei ist, abtreten müsse sein, auch wenn auf das Bessere das Blödere, auf das Größere das Gröbere folge. Hach, wie gerne hätte ich diese Aussagen zitiert, aber ich konnte ja nicht um Erlaubnis fragen.
Theaterästhetiken sind kurzlebig
Sieht man von der verbitterten Jetzt-Theater-Schelte und dem ganzen „Früher war alles besser“-Gejammer einmal ab, bleibt die Preisverleihung ein Abend für eine Schauspielerin, die ihr ganzes Leben ziemlich bedingungslos dem Theater widmete, und die ich sehr sehr gerne einmal in echt auf der Bühne und nicht nur auf alten Videokassetten gesehen hätte – sogar in der Regie von Peter Stein und selbst wenn neben ihr ein Samowar gestanden hätte.
Als ich nach den Standing Ovations für Frau Lampe den Saal verlasse, denke ich darüber nach, wie kurzlebig Ästhetiken und Moden im Theater sind. Und frage mich, ob ich in vierzig Jahren auch einmal weißhaarig und mit meinem Klappstuhl unterm Arm bei einer Preisverleihung sitzen werde, bei der René Pollesch mit Krückstock neben Stefan Pucher am Rollator auf der Bühne stehen wird, und ein buckliger Alexander Scheer in einer krächzenden Rede die große, alte Diva Birgit Minichmayr würdigt, oder so. Und vielleicht sitzt dann eine Reihe vor mir auch so eine 30-Jährige, die das alles nur noch aus dem blaustichigen YouTube-Videoarchiv kennt und nicht versteht, warum das bitteschön mal der heiße Scheiß gewesen sein soll.