Der Idee eines erweiterten Begriffs von Autorschaft folgend, hat sich der diesjährige Stückemarkt beim Theatertreffen der Berliner Festspiele nun von seinem bisherigen Modell der Autorennachwuchsförderung verabschiedet. Drei sogenannte „Paten” – Katie Mitchell, Signa Köstler und Simon Stephens – haben stattdessen jeweils einen Theaterkünstler für den Stückemarkt nominiert, der in ihren Augen für ein anderes Autorenverständnis steht und der, so die öffentliche Erklärung des Stückemarkts, „neue Formen von theatraler Sprache und außergewöhnliche performative Erzählweisen” entwickelt. So will das Theatertreffen aktuelle Tendenzen der Theaterlandschaft abbilden und fördern, die sich von rein textbasierten Inszenierungen wegbewegen und entweder kollektivere Prozesse von Stoffentwicklungen ausprobieren oder auch performative und interdisziplinäre künstlerische Ansätze verfolgen.
Die Regisseurin Katie Mitchell hat sich in diesem Auswahlverfahren mit folgender Begründung für Miet Warlop entschieden: „Ihr Gefühl für Spannung und dramatisches Timing ist vollendet und die Arbeit ist auf dunkel-ironische Weise sehr komisch. (…) Ich habe mich wegen ihrer Beherrschung der theatralen Mittel und ihrer einzigartigen visuellen Handschrift für sie entschieden, aber auch weil ihre Produktionen ein klares Potential für das zukünftige Gesamtwerk versprechen.“ Miet Warlops Inszenierung „Mystery Magnet” erscheint wie ein knallbunter Reigen visueller und pyrotechnischer Effekte: seltsame Wesen mit Wischmobfrisuren betreten den Raum und tackern sich gegenseitig an das Bühnenbild. Blaues und violettes Kunstblut fließt in Strömen. Ein dicklicher Mann verschwindet irgendwann ganz unvermittelt in einer Wand und bleibt reglos darin hängen. Riesige farbige Schaumfontänen spritzen aus kleinen Flaschen in die Höhe. Rauch steigt auf. „Mystery Magnet” kommt ganz ohne Text aus und macht dabei den Eindruck einer wirkungsvollen Showeinlage bei einem Kindergeburtstag. Der Abend ist unterhaltsam und visuell überzeugend, aber auch irritierend inhaltsleer. Hinter der exzessiven Farb- und Kostümschlacht lässt sich kaum wirklich eine tiefergehende Auseinandersetzung, geschweige denn mit irgendeinem politisch oder gesellschaftlich relevanten Thema, ausmachen. Die sich Effekt für Effekt entfaltende surreale und poppige Märchenwelt kippt zwar irgendwann ins Düstere, Brutale, wird aber letztlich doch durch ein schräge Töne spuckendes, fröhliches Tonbüsten-Ensemble wieder ins Niedliche und Harmlose zurückgeholt. Eine besondere „visuelle Handschrift”, vielleicht. Aber ansonsten? Viel, die eigenen Mittel feiernder, Ästhetizismus und Lärm um nichts.
Simon Stephens hat sich in seiner Recherche für den Performancekünstler und Autor Chris Thorpe entschieden und begründet dies so: „Er ist ein Autor, der das komplizierte Chaos der menschlichen Existenz versteht. Dieses Verständnis zwingt ihn zur Ehrlichkeit. Aber es lässt ihn niemals zum Richter werden. (…) Seine Texte entsprechen nicht dem traditionellen Verhältnis zwischen Stück und Inszenierung. Er ist eher Theatermacher als Dramatiker.” „There has possibly been an incident” kann man Inhaltsleere keineswegs vorwerfen. Ganz im Gegenteil, bebt der Text nur so vor Inhalt und brennt sich, emphatisch vorgetragen von den drei Lesenden, allen voran von Chris Thorpe selbst, der all seine Energie in diesen Text legt, direkt in die Köpfe der Zuschauer. Die Lösung, den Text ohne szenische Bebilderung trocken, aber gesetzt und forciert in einer szenischen Lesung zu präsentieren, hat durchaus etwas Zwingendes. Auch ist der Text inhaltlich brisant: es geht um so wichtige Themen wie Terrorismus, die europäische Idee, um Macht und Widerstand. Erfreulich ist, dass Thorpe offensichtlich auch aufgrund seiner dezidierten Beschäftigung mit aktuellen, drängenden politischen Themenkomplexen ausgewählt wurde. Sprachlich und auch dramaturgisch ist der Text für mein Empfinden jedoch ein wenig zu schematisch angelegt. Fraglich ist daher, inwieweit hier tatsächlich ein Autor ausgewählt wurde, der eine neue, auch formal und sprachlich wagemutige Form in seinem Schreiben verfolgt.
Die dritte Wahl der Patin Signa Köstler fiel auf die Bühnenbildnerin Mona el Gammal, mit der sie bereits in gemeinsamen SIGNA-Projekten zusammengearbeitet hat: „Mona el Gammal arbeitet kompromisslos. Sie gestaltet Räume, die durch die Detailbesessenheit selbst im kleinsten Requisit real werden und für einen Moment an die Stelle der Wirklichkeit treten. Mona el Gammals „narrative spaces” sind weit vom konventionellen Bühnentheater entfernt, dennoch offenbaren sie viel über das Theater, besonders über das Zuschauersein.“ Die für mich überzeugendste Arbeit der drei Stückemarkt-Produktionen zeigt an, was vielleicht damit gemeint sein könnte, wenn man von einem neuen Verständnis von Autorschaft spricht. Nicht nur ist die Erarbeitung der Texte für „Haus//Nummer/Null” kollektiv entstanden, im Zusammenspiel zwischen Mona el Gammal und ihrem Co-Autor und Regisseur Juri Padel, sowie dem Sounddesigner und anderen Teammitgliedern. Auch offenbart das Konzept der „narrative spaces” eine spannende und herausfordernde Verlagerung der Autorschaft vom Text hin zum Raum, der Geschichten erzählt. Mona el Gammal beschreibt ihre sogenannten Zeit- und Rauminstallationen als Bücher, die der Zuschauer betritt und in denen er sich selbst eine Geschichte zusammensetzen kann. In „Haus//Nummer/Null” ist es die beklemmende Vision einer dystopischen Zukunft, in der ein privater Konzern die Weltherrschaft übernommen hat und die Menschen in all den Facetten ihres Lebens kontrolliert, ähnlich wie in den Romanen „1984” oder „Brave New World”. Dieser Stoff, den man in „Haus//Nummer/Null” ganz plastisch und unmittelbar erfahren und ertasten kann, ist in Zeiten von NSA-Skandal und ähnlichen Phänomenen hochaktuell und mahnt an, totalitäre Zeittendenzen zu erkennen und dagegen Widerstand zu leisten, statt solche Zustände einfach konformistisch und passiv hinzunehmen. Man darf auf Gammals zukünftige Projekte gespannt sein. Ihre Arbeitsweise und die inhaltliche Brisanz bei „Haus//Nummer/Null“ ist jedenfalls sehr vielversprechend.
Ich freue mich darüber, dass solche neuen, auch formal experimentierfreudigen Theaterformen wie „Haus//Nummer/Null” beim Theatertreffen gezeigt werden und Raum und Öffentlichkeit bekommen. Fraglich bleibt für mich jedoch, ob dies unter der Rubrik des bisherigen Stückemarktes seinen richtigen Platz hat. Solche Projekte gehen zwar mit einem neuen Verständnis von Autorschaft einher, sie haben jedoch nur wenig noch mit der ursprünglichen Idee zu tun, junge talentierte Dramatiker und ihre Stücke zu fördern und zu unterstützen; das Label „Stückemarkt“ scheint hier schlichtweg falsch gewählt. Gerade eben weil sich die Theaterlandschaft so vehement neuen, kollektiven Formen von Autorschaft und performativen Produktionsweisen öffnet, halte ich es für wichtig, dass demgegenüber auch der individuelle Dramatikertypus weiterhin gefördert wird, da sprachlich eigenwillige dramatische Texte und Theatersprachen nachwievor prominente Foren brauchen. Die Kraft eines guten dramatischen und gern auch postdramatischen Textes ist schlichtweg unersetzlich. Das eine tun und das andere nicht lassen, sollte daher hierzu tatsächlich die Devise sein. Das Theatertreffen wäre, so meine Einschätzung, gut beraten damit, auch diese individuelle Form von Autorschaft zukünftig weiterhin zu fördern, will man sich daran beteiligen, die Vielfalt und den Reichtum der deutschen Theaterlandschaft zu erhalten. Wichtig finde ich es zudem für so ein Forum wie den Stückemarkt, dass zurückgekehrt wird zu einem offenen Bewerbungsverfahren, da man bei einem solch exklusiven Auswahlverfahren durch Paten wie in diesem Jahr zu vielen jungen Dramatikern die Chance nimmt, sich mit einem starken Text bewerben und letztlich öffentlich präsentieren zu können.
Vielleicht wäre es auch eine Möglichkeit, dass man den Stückemarkt in seiner voherigen Form wiederbelebt und hier vor allem auf eigenwillige und experimentelle dramatische Positionen von Autoren beziehungsweise Autorenteams Wert legt und solche Produktionen, wie sie beim diesjährigen Stückemarkt gezeigt wurden, entweder in einer eigenen Rubrik für junge experimentelle performative Formate – ähnlich dem Young Director`s Project bei den Salzburger Festspielen – präsentiert, oder sie gleich ganz in das zentrale Programm des Theatertreffens, in die Auswahl, aufnimmt. Letzteres wäre ein mutiger Schritt für das Theatertreffen und würde verhindern, dass performative Theaterformen oder installative Projekte zum wenig beachteten Nebenprogramm des Festivals verkommen. Ich halte insgesamt ein neues, nicht-hierarchisches Verständnis von Autorschaft definitiv für verfolgens- und unterstützenswert, weil es das Denken erweitert und öffnet. Die Pluralität der Theaterlandschaft – also auch die Förderung starker individueller Autorenstimmen und -positionen – statt des alleinigen Fokus auf performative, kollektive Theaterformen sollte dennoch in jedem Fall weiterhin das Ziel sein!
Foto: Piero Chiussi
Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.
–––