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Das Herzstück des Theatertreffens bildeten, auch in diesem Jahr, die sogenannten zehn bemerkenswerten Inszenierungen. Und traditionell wurde auch in diesem Jahr intensiv befragt, diskutiert und kritisiert, was an der spezifischen Auswahl denn so bemerkenswert sei. Die ebenso traditionelle Gleichsetzung des Wortes bemerkenswert mit sehr sehr sehr gut, ließ dabei die Erwartungshaltung natürlich ins Unermessliche steigen. Dabei ist bemerkenswert erst einmal weder positiv noch negativ konnotiert, deutet viel mehr an, dass etwas an einer Inszenierung besonders oder außergewöhnlich war und dementsprechend Aufmerksamkeit verdient – und zwar aus der Perspektive derjenigen, die sie ausgewählt haben.
Tatsächlich geizte die diesjährige 10er-Auswahl nun wirklich nicht mit bemerkenswerten Elementen: In allen(!) Inszenierungen gab es sehr besondere schauspielerische Darbietungen zu erleben, die zahlreiche Facetten des Schauspiels – von lustig über tragisch über unterspannt, von introvertiert bis hin zu exklamatorisch oder gekonnt dilettantisch (etwa im frenetisch dargebotenen „Sommernachtstraum“) zu bedienen verstanden.
Viele Inszenierungen – etwa „Die Eingeborenen von Maria Blut“, in der zentralperspektivisch eine riesige Madonna-Statue auf der Bühne emporragte, oder „Kinder der Sonne“, für welche die luxuriöse holzvertäfelte Inneneinrichtung vergangener Epochen sehr detailgetreu nachgebaut wurde – beeindruckten durch sehr bildstarke und durchdachte Bühnenbilder, die sich ins Hirn einbrennen.
Auch das – auf Formalismus basierte – Theater kam nicht zu kurz: während beim „Zwiegespräch“ die Kraft der Symmetrie zelebriert wurde, vertraute „Hamlet“ auf die Magie des Loops und „Der Einzelne und sein Eigentum“ verstand es, seinen Sog mittels fortwährender Rotation zu entwickeln.
Neue Formate für das Theater wurden ebenfalls erprobt – etwa in „Ophelia’s Got Talent“, einer sinnlich-feministischen poetischen Collage, die aber auch Elemente von Artistik und Akrobatik darin unterzubringen wusste, oder in „Das Vermächtnis”, einer Annäherung des Theaters an bekannte Netflix-Ästhetiken mit all ihren stereotypisierten Sehgewohnheiten. Beide Produktionen sparten im Übrigen auch nicht an special effects: Überlebensgroße Bäume drehten sich in den Guckkasten hinein, Helikopter wurden vom Bühnen-Äther hinabgeseilt. In der „Nora“ stand sogar eine ganze Hauskulisse Kopf, während die Inszenierung durch punktuelle Überschreibung des Kanonischen auch inhaltlich Ibsen auf den Kopf stellte. Und „Der Bus nach Dachau“ versuchte gleich den ganzen Diskurs um die filmische Darstellung der Shoah neu zu befragen – mit einem innovativen, filmisch-theatralen Konzept, wenngleich ohne Involvierung zeitgenössischer jüdischer Perspektiven.
Die Liste des Bemerkenswerten war folglich auch in diesem Jahr sehr lang. Jedoch kristallisierte sich auch heraus, dass all diese bemerkenswerten Elemente vornehmlich einen Fachdiskurs über Theater voraussetzen, um überhaupt in ihrer ganzen Besonderheit erkannt zu werden.
Die Frage, die bleibt – und auf dem Festival schon mehrfach angesprochen wurde: An wen möchten sich das Theatertreffen überhaupt richten? Ist es eine Fachmesse? Ein Showcase für alle? Ein Treffen des Theater-Bürgertums? Inhaltlich wurde ein erwünschter privilegierter Adressat erkennbar: zwar verhandelte die 10er Auswahl gesellschaftspolitisch relevante Diskurse – von Klassenbewusstsein über Feminismus bis hin zu deutscher Erinnerungskultur –, jedoch vornehmlich aus einer zentraleuropäischen bürgerlichen Perspektive, die um ihre Normativität sogar weiß und diese in den Inszenierungen offen anspricht, statt sich um einen Gegenentwurf zu bemühen.
Die 10er-Auswahl 2023 also: in jedem Fall bemerkenswert, um den Diskurs neuer theatraler Ästhetiken fortzuführen, aber inhaltlich gibt es noch Raum um Multiperspektivität, die sich gesellschaftlich längst eingestellt hat, auch auf der Guckkastenbühne mitzudenken.