Die letzten Zeugen auf der großen Bühne. Eine Stimmübergabe

„Die letzten Zeugen“ – Ein Projekt von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann
Uraufführung: 20. Oktober 2013 am Burgtheater Wien
Handlung: sechs Überlebende des Holocaust sitzen schweigend auf der Bühne, während Schauspieler ihre Geschichten vortragen
Anzahl leerer Sessel auf der Bühne: Ceija Stojka verstarb im Januar 2013 und hinterlässt einen leeren Platz
Rekordverdächtig: das längste Blatt Papier der Welt wird mit Erinnerungen beschrieben
Als erstes betritt der Dramaturg Andreas Erdmann die Bühne und erklärt den Ablauf des Abends. Es werde einen Bühnenteil geben und nach der Pause einen Gesprächsteil mit den Zeitzeug_innen, aufgeteilt in drei Bereiche des Foyers. Dabei sagt er etwas Wichtiges: die Überlebenden seien mit auf der Bühne, wenn ihre Geschichten erzählt werden, um das Erzählte zu „bezeugen“. Ein ungewöhnlicher Satz auf einer Theaterbühne, auf der zwar gelegentlich auch mal Wahrheiten ausgesprochen werden, aber selten ein Zeuge dafür verlangt wird. Tatsächlich sitzen die sechs Holocaustüberlebenden im hinteren Teil der Bühne zunächst einfach nur dabei, während im vorderen Bühnenbereich zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler ihre Geschichten vorlesen. „Ihre Geschichten“ ist vielleicht der falsche Ausdruck für das, was da – in sachlichem Ton von einem Pult verlesen – zur Sprache kommt. Es sind unsagbare Schreckenserlebnisse, Erzählungen von unvorstellbarer Gewalt, vom Sterben, vom Tod, von Folter und Demütigung, vom Verstecktsein, von Angst, vom Überleben – erzählt aus der Kinderperspektive und „bezeugt“ von den alten Menschen auf der Bühne. Dabei gibt es auch kleine Momente des Menschlichen: die Geschichte von einer starken Mutter, von einem mutigen Helfer und dem „Anblick für die Götter“, als ein Profiboxer dem SA-Mann die Demütigung kurzerhand mit einer gezielten Rechten beantwortet. Ein Sessel bleibt leer, markiert mit einem Halstuch. Es ist der von Ceija Stojka, die im Januar 2013 verstorben ist. Dieser leere Platz macht noch deutlicher spürbar, dass wir es hier wirklich mit den „letzten Zeugen“ der Naziverbrechen zu tun haben. Die gespannte Stille im Publikum zeugt von der Betroffenheit, die die Schilderung der Erlebnisse auslöst, und von dem Bewusstsein, dass der heutige Abend für die meisten Anwesenden die letzte Gelegenheit ist vor einem solchen Zeitzeugen zu sitzen.
Wenn die Erinnerungen vorgetragen werden, erscheinen auf zwei halbtransparenten Leinwänden Nahaufnahmen der Gesichter der im Hintergrund sitzenden Zeitzeugen und Einblendungen von historischen Fotografien, die das Erzählte bebildern. Zwischen den Leinwänden sitzt eine Frau an einem Tisch. Sie schreibt auf ein unendliches Papier, das links und rechts in den Stafetten verschwindet, was gerade berichtet wird. Die Symbolik ist eindeutig: Es geht darum, diese persönlichen Erinnerungen, die Geschichten der wenigen Überlebenden, die für so viele unerzählte der zum Schweigen Gebrachten stehen, im Medium der Schrift festzuhalten. Dieses ist nicht ganz so fragil wie die zerbrechlichen menschlichen Körper, die wir an ihrem Lebensabend sehen, und auch nicht so flüchtig wie ein Theaterabend.
Die Inszenierung ist schlicht, eigentlich eine Lesung mit Bildprojektion. Ein wahrer Kontrast zu dieser riesigen Bühne, auf der in den letzten Tagen schon so einiges passiert ist: sie musste die Schwere von Zement ertragen, sich drehen, sich zum Abenteuerspielplatz verwandeln und zwischen Kleiderbergen wurde auf ihr getanzt. Hier aber wird der riesige Raum für die Erzählungen gelassen. Die Zurückhaltung und Konzentration auf Gesichter und auf das gesprochene Wort wirken nicht sprachlos und bemühen auch nicht den Topos der Undarstellbarkeit, der oft genug als Entschuldigung herhalten muss, wenn wir Nachgeborenen, wir Verschonten uns nicht die Mühe machen wollen, nach Formen zu suchen, die dem Undarstellbaren doch zu Ausdruck verhelfen. Hier drückt die Zurückhaltung Respekt aus. Das Anliegen, sich durch nichts vor diese Geschichten zu stellen, ist spürbar. Bis auf wenige Sprachaufnahmen der Zeugen, hören wir das Erzählte nur durch die Stimmen der Schauspieler_innen. An einer Stelle erklingt zuerst für einen kurzen Moment die Stimme der Zeitzeugin vom Band. Dann stimmt die Schauspielerin synchron sprechend ein und schließlich verstummt die Aufnahme, bis nur die Schauspielerin weiterspricht. Die Symbolik des Weitergebens der Stimme und des Stimme Leihens der jungen Schauspieler_innen für die Überlebenden, die die letzten sind, ist zwar überdeutlich, vielleicht gar plakativ, aber gleichzeitig auch ein berührendes, kraftvolles Bild. Ein Appell, die Geschichten nicht zusammen mit ihren Protagonisten und Erzählerinnen aussterben zu lassen, sondern weiter zu tragen.
Der zweite Teil des Abends, das Publikumsgespräch mit jeweils zwei der Überlebenden und einem Moderierenden, ist die Möglichkeit zur direkten Begegnung. Man hat das Gefühl, nun in der Gegenwart angekommen zu sein. Das Publikum erlebt, wie zwei unglaublich temperamentvolle, hellwache Menschen ihm gegenübersitzen. Sie erzählen, warum sie hier sprechen, obwohl es ihnen nicht leicht fällt, was ihr Anliegen ist und wie sie heutige Geschehnisse erleben. Rudolf Gelbard beobachtet ganz genau, was in Europa an rassistischen Gewalttaten bis heute passiert, seine Stimme wird laut, als er berichtet, dass in Deutschland seit 1990 184 Menschen von Neonazis ermordet wurden. Lucia Heimann spricht aus Dankbarkeit ihrem Retter gegenüber und fragt sich, warum heute die Hilfsbereitschaft gegenüber Verfolgten so gering ist, wo doch kein Helfer um sein Leben fürchten muss. Das sind Gesichter und Stimmen, die bezeugen! Danke, dass wir diese Geschichten hören durften.
Foto:  Reinhard Werner
Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.

–––

Hannah Wiemer

Alle Artikel