In früheren Jahren, wenn die Entscheidung der Jury des Theatertreffens über die zehn eingeladenen Inszenierungen bekannt gegeben wurde, stieg Pulverdampf zum Himmel. Das Bashing der Jury gehörte zu den Ritualen. In den letzten beiden Jahren fand das nicht mehr statt: Wohlwollen, in vielen Fällen sogar Zustimmung zur Auswahl in der Vorberichterstattung. Ich litt fast an Entzug, ich vermisste den Pulverdampf. Aber vielleicht hat sich alles in die Gespräche nach den Aufführungen verlagert.
Jetzt ist das Schöne am Theatertreffen, dass jeder und alle anderer Meinung sind. In extremer Form war das so nach „Life and Times“ vom Nature Theater of Oklahoma. Da gingen richtige Risse durch die Zuschauer. Die einen fanden es banal, uninspiriert, eher peinlich; die anderen lobten minimalistische Kühnheit und Verausgabungsbereitschaft der jungen Schausteller. Einige junge Besucherinnen verdrehten mir die Augen und sagten inbrünstig, sie würden sooo seeehr gerne bei Life and Times Nr. 2 mitspielen. Die zweite Episode soll auch vier Stunden dauern. Das Regieteam stellte beim Publikumsgespräch zehn Episoden in Aussicht. Manche empfanden das als fürchterliche Drohung.
Ähnlich hoch her ging es gestern nach der Première von Handke / Bodó aus Graz. Nach der Aufführung kamen nacheinander fünf Besucher zu mir – der älteren Generation, sie schienen alle vor einem Vierteljahrhundert die legendäre Inszenierung von Luc Bondy mit Jutta Lampe et al mit eigenen Augen gesehen zu haben – und meinten, das sei nun der größte Mist gewesen. Sie gerierten sich als Gralshüter. Bodó habe alle Geheimnisse von Peter Handke getilgt bzw. verraten. Meinem vergnügungssüchtigem Gemüt gefiel aber diese Schau ausnehmend gut. Ich scheine eine Schwäche für ungarische slapsticks zu haben und schäme mich dessen nicht.