Wieder hat Regisseur Ulrich Rasche ein Chor-Tableau des Schreckens entworfen, mit dem das 56. Theatertreffen zu Ende ging. In seiner Dresdner Adaption von Ágota Kristófs „Das große Heft“ zieht das Grauen des 20. Jahrhunderts auf – und doch ist nicht alles so uniform, wie es scheint.
Der oft betonte, suggestive Sog von Ulrich Rasches Arbeiten brauchte an diesem Abend einige Momente, bis er tatsächlich an mir zog. Dann ließ er mich hier und da wieder los, riss hin und her und klammerte schließlich doch — auch nach der Aufführung noch.
Im Dunkeln hebt sich zu Live-Musik der eiserne Vorhang der Berliner Festspiele, der Bühnenraum tut sich in gelbem Nebel auf. Links und rechts an der Rampe sind die Musiker*innen (Drums, E-Bass, Violine, Cello) platziert. Unter der Komposition von Monika Roscher kocht das Mozart-Requiem. Arm an Arm klebend schreiten Moritz Kienemann und Johannes Nussbaum auf einer riesigen Drehscheibe und stanzen Worte in den Raum. Laufend kommen weitere Darsteller, ausschließlich männliche und immer zu zweit, dazu. Die Scheibe stockt, man bewegt sich auf der Stelle weiter. Das Sprechen exponiert sich, wird immer gewaltiger, Schweiß tropft auf den Boden. Eine zweite Scheibe dreht sich ins Sichtfeld des Publikums, auf ihr formieren sich acht weitere Spieler zu wieder wechselnder Musik. Die Spielenden, mal alle, mal nur ein Teil oder nur einer, gehen zusammen, treten dann wieder auseinander, das Sprechen wechselt ständig seinen eigensinnigen Takt, klingt selten im Takt der Musik, die sich von leise streichend zu trommelnd laut und wieder zurück formiert, Nebel bewegt sich wiederholt schleichend über die Bühne und dringt in den Saal. Alles an diesem Abend ist in ständiger Bewegung — mal gegeneinander, mal nebeneinander, die verschiedenen Mittel selten miteinander, aber sehr akribisch, musikalisch komponiert.
Bis ins Mark
Die Worte kommen aus Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“ über das Leben von Zwillingsbrüdern inmitten des Zweiten Weltkriegs. Bei Ulrich Rasche werden sie von sechzehn Männern Silbe für Silbe ausgestellt. Eine enorme Leistung dieses Ensembles, das den Text, der in eigensinnigen, komplexen Takten, gemeinsam oder im Kanon gegeneinander gesprochen beziehungsweise öfter geschrien wird, gleichzeitig in eine eindrückliche Körpersprache auf den sich permanent drehenden Scheiben übersetzt. Und obwohl häufig die Masse und der Chor im Zentrum stehen, lassen sich dennoch eigene Haltungen, Ausdruck und Sprechweise erkennen.
Diese Chöre des Schreckens erinnern auf eindrücklich unangenehme Weise an die Gräuel des 20. Jahrhunderts. Von ihnen erzählt auch der Roman. Die Zwillingsbrüder müssen sich gegen diese Welt und ihre Schrecken in verschiedenen Übungen abhärten, Gelerntes und Erlebtes in einem Heft notieren. Genau hier klafft aber eine Diskrepanz zwischen der Sprache des Romans und jener der Inszenierung. Kristóf schreibt in einer protokollartigen, nüchternen, sehr klaren Sprache, die trotz oder gerade wegen ihrer Nüchternheit bis ins Mark geht, ekeln lässt vor dem, was hier berichtet wird.
Rasches Inszenierung hingegen zieht diese Sätze, spielt mit Wiederholungen, gerade in den Momenten, wo es um die scheußlichsten Dinge, um sexualisierte Gewalt geht. Dazu werden auf den Gazevorhang vor der Bühne Nahaufnahmen einiger Spieler projiziert, als müsse aller Effekt noch verdopppelt und verdreifacht werden. Ihr Maximum erreicht diese Ästhetik in den gewaltigen Chor- und Gegenchorpassagen, in denen das gesamte Männer-Ensemble, gegeneinander und übereinander brüllend, wieder und wieder die grausamsten Stellen des Romans betont.
Empörend brutal
Doch der Roman gibt das so nicht her. Ágota Kristófs Sprache mag nicht ganz aufgehen in der Rasche-Ästhetik und man mag sich fragen, warum es diesen großen, intensiven Männerchor, der nicht nur Männer- sondern auch Frauenrollen verkörpert, warum es dieses viele Testosteron braucht. Ein Vorschlag: Dieser Chor erinnert nicht nur an die schauerlichen Männlichkeitsbilder des vergangenen Jahrhunderts und dessen erbarmungslose Grausamkeit, sondern weckt Assoziationen zu einer Gegenwart, in der sich eben diese Männerchöre wieder laut in rechten Bewegungen wie den Identitären und Pegida (die Inszenierung kommt immerhin aus Dresden!) formieren.
Man kann sich über die ausgestellte Männlichkeit ärgern, man sollte sich vor ihr ekeln, man kann die Sprache der Inszenierung gegenüber der des Romans ablehnen. Dennoch: Wir sehen und hören hier keinesfalls einheitlich maschierende, faschistoid dargestellte Männer, die dem Takt von Musik und Lärm folgen. Es ist keine reine Reproduktion, die Rasche unternimmt. Vielmehr dekonstruiert das Sprechen an vielen Stellen sich selbst, wechselt ständig den Takt, gibt Raum für individuelle Bewegung im gesamten leiblichen Ausdruck. Und: Gilt es nicht gerade heute, auf eben diese empörend brutale Weise an das zu erinnern, was war und nie wieder sein darf?
Das große Heft
nach dem Roman von Ágota Kristóf
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
in einer Fassung von Ulrich Rasche und Alexander Weise
Regie
und Bühne: Ulrich Rasche, Bühnenbildmitarbeit: Sabine Mäder, Kostüme
und Bühnenbildmitarbeit: Romy Springsguth, Chorleitung: Alexander Weise,
Toni Jessen, Komposition: Monika Roscher, Dramaturgie: Jörg Bochow,
Katrin Breschke.
Mit: László Branko Breiding, Philipp Grimm, Jannik
Hinsch, Harald Horváth, Robin Jentys, Toni Jessen, Moritz Kienemann,
David Kosel, Sam Michelson, Johannes Nussbaum, Justus Pfankuch, Daniel
Séjourné, Yassin Trabelsi, Alexander Vaassen, Simon Werdelis, Tommy
Wiesner, Musiker: Heiko Jung, Christoph Uschner, Kseniya Trusava, Slowey
Thomsen.
Dauer: 3 Stunden 40 Minuten, eine Pause
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