„Ich möchte, dass man Teenager und Omas reinsetzen kann“

„Das Vermächtnis“ eröffnete das Berliner Theatertreffen 2023. Mit dem TT-Blog sprach Regisseur Philipp Stölzl über Privilegien, harte Arbeit und die Liebe zur Kunst.

TT-Blog: Philipp, wieso hast du dich entschieden, in Zeiten von Schnelllebigkeit und kurzen Aufmerksamkeitsspannen ein Stück zu konzipieren, das sieben Stunden lang ist? 

Philipp Stölzl: Auch heute muss es im Theater Platz geben für intensive Erlebnisse. Ich hatte Lust, ein langes Stück zu machen, weil ich selbst begeistert wurde von langen Erzählungen auf der Bühne. Auch beim Theatertreffen waren schon öfter lange Stücke wie der „Faust“ von Castorff. Es ist toll, den Tag im Theater zu verbringen und sich einer Erzählung auszuliefern. Das macht was mit einem. 

TT-Blog: Inwiefern?

Philipp Stölzl: Es ist ein Unterschied, ob man nach anderthalb Stunden wieder diese Welt verlässt – isst, trinkt, zurück in der wirklichen Welt ist. Oder, ob man stundenlang in eine Geschichte eintaucht. 

TT-Blog:  … die nicht nur kurz den Alltag verdrängt, sondern tief in eine Welt reinzieht. „Das Vermächtnis“ wurde angekündigt als ein Stück über die LGTBQ+-Community und HIV. Es ging jedoch auch um emotionale Verbindungen zwischen Menschen. Darum, wie sich Beziehungen verändern. Welche Themen sollten in Film und Theater mehr Aufmerksamkeit erhalten?

Philipp Stölzl: In Bezug auf „Das Vermächtnis“ hat es mich irritiert, dass es vor allem als Stück über die Aids-Epidemie angekündigt wurde. Die Epidemie spielt eine Rolle in der Vergangenheit der Charaktere. Aber ich finde, dass es eher ein Gesellschaftspanorama dieser Zeit ist. Es geht um Beziehungen – wie man einander liebt und begehrt und enttäuscht. Darum, wie man an den eigenen Selbstlügen scheitert. Doch auch um das Thema Verlust: von Liebe, von Menschen, die sterben. Was die Seelen, die uns weiter umgeben, uns sagen. Es wird allgemein Menschliches verhandelt. Auf eine breite, aber ernste Weise. 

TT-Blog:  Also Themen, die eine Bandbreite an Zuschauer*innen ansprechen.

Philipp Stölzl: Wenn du ins Publikum schaust, sitzen da natürlich Menschen, die Teil der LGBTQ-Community sind. Aber es sind auch viele Leute anderer sexueller Orientierungen – ältere Menschen, Hetero-Paare – da, die das Stück tief berührt. Obwohl es ausschließlich von schwulen Männern handelt. Denn es so erzählt, dass man sich dazu verhalten kann. Wer Dostojewski liest, taucht auch in eine Welt ein, die lange vergangen ist. Trotzdem ist es kraftvolle Literatur, die uns auch heute noch viel sagt. Ein Merkmal von starken Texten ist, dass sie berühren, obwohl sie von Leuten handeln, die anders sind als man selbst. 

TT-Blog:  Prägt die Aussage deinen eigenen Blick auf Kunst?

Philipp Stölzl: Kunst hat das Potenzial, eine Projektionsfläche für eigene Gefühle und Gedanken zu schaffen. Zu bestimmten Zeitpunkten des Lebens verbinden sich Elemente aus einer Inszenierung mit einem selbst. Kunst hat darüber hinaus mit Überschreibung zu tun. Ich habe einmal ein Musikvideo für Madonna gemacht, für „American Pie“. Ich fragte sie, warum sie einen Deutschen nimmt, um einen amerikanischen Song zu verfilmen. Sie sagte, dass sie einen Blick aus der Distanz haben wollte – weil das Klarheit schafft. Manchmal hilft es, klarer zu sehen, wenn man einen Schritt weiter weg ist.

TT-Blog:  „Du wirst tun, was sie nicht tun konnten. Du wirst Leben.“ Der letzte Satz deiner Inszenierung. Was verbindest du damit?

Philipp Stölzl: Ich gehe erstmal einen Schritt zurück. Henry steht als letzte Figur auf der Bühne. Er sieht das Haus und sagt, er könne alles sehen: die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft. Er hat das Gefühl, dass er mit seinen Bindungen an die Welt, an die Menschen, an einen Ort, total aufgehoben ist. Das hat man manchmal im Leben. Henrys Geschichte wird in Rückblenden erzählt. Er ist jemand, der mit der Seuche, dem Sterben und dem Verlust nicht umgehen konnte. Deswegen hat er beschlossen, nicht mehr zu lieben. Er konnte nicht mehr lieben, ein Schutzmechanismus. All die Jahre hat er nicht geliebt – und nicht gelebt. Am Ende verlässt ihn Eric, weil er richtige Liebe braucht. Dann sagt Henry: „Verlass mich nicht, ich habe alles falsch gemacht.“ Aber es ist zu spät. Dennoch steht er dann dort, und der tote Walter taucht auf als Seele. Er sagt ihm, dass er eine Chance bekommt, nicht zu alt ist und sein Leben nicht verpasst hat.

TT-Blog:  Was ist die Botschaft?

Philipp Stölzl: In jedem Moment kannst du neu anfangen und sagen: Ich mache es jetzt richtig, öffne mich für Gefühle und werde liebesfähig. Es ist eine Aufforderung, jetzt zu leben. Bei den vielen Toten durch die Epidemie geht es um nicht gelebtes Leben. Wie viele tolle Leute sind durch die Epidemie verloren gegangen? Walter gibt Henry diese Aufgabe: So viele konnten nicht leben, du hast überlebt, lebe jetzt endlich, jeder Tag ist ein Geschenk. 

TT-Blog:  In der Inszenierung wird HIV zunächst als Seuche dargestellt, die tötet. Später wird sie als Seuche dargestellt, die tötet, wenn man arm ist. Ich habe in „Das Vermächtnis“ eine Gesellschaftskritik wahrgenommen, weil man sich retten kann, wenn man die nötigen und die finanziellen Ressourcen besitzt. 

Philipp Stölzl: Wer in Industrieländern lebt, hat in jeglicher Hinsicht eine höhere Lebenserwartung. Am Beispiel HIV lässt sich das nachvollziehen. Wer heutzutage in Deutschland HIV-positiv ist, kann damit verhältnismäßig gut leben, weil Medikamente erhältlich sind. In anderen Ländern gibt es das nicht. Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg habe ich einen Artikel über die Wagner-Gruppe gelesen. Die haben Häftlinge aus den russischen Gefängnissen geholt und an die Front gestellt – als Kanonenfutter. Da waren viele HIV-positive Häftlinge dabei, die dort hingehen, weil sie annehmen, sie hätten sowieso nicht mehr lang zu leben. So haben sie wenigstens die Möglichkeit, in Freiheit ihr Lebensende zu verbringen – das ist irre. Doch dann habe ich gedacht: wenn du in Russland Fixer bist und HIV bekommst, bist du eben gearscht. Es fehlt Verantwortlichkeit und soziale Gerechtigkeit. Das wird im Stück auch zwischen Henry und Eric diskutiert. Henry will nicht, dass Eric Leo zu sich holt. Er sagt: „Gib ihm Geld und schicke ihn auf die Straße.“ Eric entgegnet darauf: „Die Verfassung gilt für alle, nicht nur für die mit den guten Steuerberatern.“ 

TT-Blog:  Die Kritik am Umgang mit Armut war in „Das Vermächtnis“ stark. 

Philipp Stölzl: Das Stück schneidet vom reichen Immobilienbesitzer (Henry) zum Strichjungen (Leo), der fast verreckt auf der Straße. Es ist ein Brennglas von sozialer Ungerechtigkeit und Verantwortungslosigkeit der Reichen und der Mittelschicht den Armen gegenüber. 

TT-Blog:  Ist die Gesellschaft zu stark fragmentiert? 

Philipp Stölzl: Fragmentierung ist das eine. Das Problem ist, dass Individualismus zu stark mit Egozentrik zu tun hat. Was fehlt? Ein Sinn für Verantwortung füreinander. Jedoch müssen alle ihren Teil dazu beitragen, dass es funktioniert. Damit meine ich nicht nur, dass die Reicheren für die Ärmeren da sind, sondern auch eine gemeinsame Verantwortung für unser Klima. Wenn ich sehe, wie die „Letzte Generation“ Anfeindungen erlebt und sich Menschen darüber beschweren, dass sie im Stau stehen… Die Leute sollten sich lieber überlegen, was für ihre Kinder und Urenkel wichtig ist. 

TT-Blog:  Und was ist in deinen Augen Mainstream? 

Philipp Stölzl: Das ist ein weitgefasster Begriff. Ich verwende lieber „breit“. Ich mag Kunst, die breit gelesen werden will. Mein Lieblingsmusiktheaterort ist die Seebühne Bregenz, das ist Open-Air, riesig. Dort habe ich inszeniert. Da kommen viele Leute, die die Oper noch nie zuvor gesehen haben. Das ist kein Fachpublikum. 

TT-Blog:  Was ist daran besonders?

Philipp Stölzl: Dass Kunst sich öffnet und für viele zugänglich ist. Ich habe eine Affinität zu Narrativen, Erzählweisen und Vokabular, die eher einfacher funktionieren. Ich möchte, dass man einen Teenager und eine alte Oma reinsetzen kann – und beide sich abgeholt fühlen. Es gefällt mir, wenn Kunst alle einlädt. Deswegen gehe auch ich gern ins Mainstream-Kino. Wobei Mainstream eigentlich ein negativ belegter Begriff ist, von denjenigen, die sich von einem scheinbaren Mainstream abgrenzen. Es lässt außer Acht, dass es keine Schubladen sind, die wirklich greifen.

TT-Blog: Wann wusstest du, dass du dich mit Kunst beschäftigen möchtest? 

Philipp Stölzl: In der elften Klasse im Deutsch-Leistungskurs hatte ich einen Lehrer, der uns in die Welt der Literatur mitnahm und mit uns ins Theater ging. Ich war fasziniert und bin nach dem Zivildienst ans Theater als Praktikant. Als ich im blauen Umgangslicht hinter den Kulissen stand, während die Vorstellung lief, fühlte ich, dass ich hierher gehöre. Ich wollte sofort arbeiten, habe nicht studiert. Nun gebe ich an der Uni Workshops – in dieser mir fremden Welt. 

TT-Blog: Wie hat sich dein Zugang zur Welt des Theaters gestaltet? 

Philipp Stölzl: Mein Vater war Museumsdirektor. Ich bin zwischen Kunstbüchern, Klavier und Platten aufgewachsen. Ich hatte das Privileg, mit Input und Inspiration groß zu werden. Mit sechzehn hatte ich die Standardwerke der Literatur durch. Schon in jungen Jahren war ich ein harter Arbeiter. Ich habe in meinem Leben Leute getroffen, die das wahrgenommen haben und mich förderten. Nach meinem Praktikum erhielt ich eine Assistentenstelle. Dort habe ich einen Regisseur kennengelernt, der mich als Bühnenbildner engagiert hat. 

TT-Blog: Wie ging es weiter?

Philipp Stölzl: Von dort aus bin ich in die ostdeutsche Provinz gereist. Menschen kennengelernt, die Musikvideos drehten. Die nahmen mich dann auch wieder auf. Ich war mit Engagement dabei. Dadurch findet man Menschen, die Lust haben, mit dir zu arbeiten. Das hört sich ein bisschen so an, als wäre in meinem Leben alles einfach gewesen… Das stimmt nicht. Manchmal hatte ich echt Glück – wie mit den Musikvideos. Was das Kino betrifft, war es sehr mühselig.

TT-Blog: Man sieht oft nicht, wie viele Absagen und Zurückweisungen hinter dem stehen, was ein Mensch gemacht hat. 

Philipp Stölzl: Manchmal hatte ich das Gefühl, das Drehbuch nach drei Fassungen wieder in den Mülleimer zu treten, weil ich damit nirgendwo hingekommen bin. Ich habe zusammengerechnet schon drei, vier Jahre für die Mülltonne gearbeitet. Mein ganzer Rechner ist voll mit Filmen, die nie gedreht wurden. Aber so macht man eben Kunst. Letztens habe ich mit einer Kassiererin im Supermarkt geplaudert, selber Jahrgang wie ich. Sie saß ihr Leben lang hinter der Kasse. Und ich dachte: Holy Shit! Eigentlich müsste ich jeden Tag drei Kerzen anzünden. Was für ein Glück ich hatte und was für ein privilegiertes Leben ich führe! Seit dem Schulabschluss lebe ich von der Kunst. Das ist ein Geschenk. 

TT-Blog: Was war ein Moment in deiner Laufbahn, der dich maßgeblich geprägt hat?

Philipp Stölzl: Ich war eher ein Typ für die zweite Reihe – Bühnenbildner. Regisseur wollte ich niemals werden. Als Regisseur wirst du infrage gestellt, beurteilt. Du musst eine dicke Haut haben, um den Beruf auszuüben. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Durch Rammstein bin ich dann in diese Regie-Sache reingerutscht. Das hat mich als Menschen total verändert. 

TT-Blog: Inwiefern?

Philipp Stölzl: Du merkst, du kannst es – und willst es auch. Du fängst an, an den eigenen Aufgaben zu wachsen. Gerade als Regisseur eines Films merkst du die Verantwortung. Dass da hundert Leute am Set sind und warten, was du sagst. Doch daran wächst man. Dabei habe ich Selbstbewusstsein, Gelassenheit und Ruhe entwickelt. Im Moment ist im Film- und Theaterbereich oft die Rede davon, dass man lernen muss, wie man achtsam miteinander umgeht. Gerade wenn ich derjenige bin, der hierarchisch oben steht, ist es meine Verantwortung, ein warmherziges und achtsames Klima zu schaffen. Ist der Regisseur schlecht drauf, ist die ganze Stimmung doof. 

TT-Blog: Oft hängt Gereiztheit mit Unsicherheit zusammen. Dass man zunächst selbst akzeptieren muss, dass man das alles verdient hat. Und nach positiven Erfahrungen versteht: Eigentlich muss ich nicht an mir zweifeln.

Philipp Stölzl: Das muss man lernen, insbesondere beim Filmemachen. Der Dreh ist der kleinste Teil des Prozesses. Trotzdem geht es am Set für den Regisseur um alles. Ob die geleistete Arbeit und Zeit umsonst ist – oder sich auszahlt. Als Künstler hat man ein großes Wollen. Das ist für die anderen manchmal überfordernd. Balance zu finden, dass es achtsam bleibt, das ist die Aufgabe. 


Philipp Stölzl ist ein deutscher Regisseur, der für seine visuellen Inszenierungen bekannt ist. Geboren 1967 in München, begann er seine Karriere als Bühnenbildner und wandte sich später dem Filmemachen zu. Stölzl hat eine Vorliebe für große, epische Geschichten und wirkte sowohl im Bereich des Films als auch des Musiktheaters. Seine Werke zeichnen sich durch eine kraftvolle Bildsprache, eine ausgefeilte Ästhetik und innovative Inszenierungen aus. 

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Klaudia Lagozinski

Klaudia Lagozinski, Jahrgang 1994, spricht an den meisten Tagen drei Sprachen, liebt das Reisen und mag das Schreiben. Sie arbeitet als Nachrichtenchefin für taz.de und als freie Kulturjournalistin. Vor wenigen Jahren rutschte sie in ein Dasein als Digital Nomad ab und fühlt sich seitdem in dieser Rolle ziemlich wohl. Zuhause ist für sie kein Ort, sondern ein Gefühl Sie studierte Sozial- und Kulturanthropologie, Theater und Kulturjournalismus in Berlin und ging während dieser Zeit häufig ins Theater. Außerdem studierte sie in Uppsala, Schweden, und verbrachte dort viel Zeit in Wäldern und am Lagerfeuer.
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Klaudia Lagozinski, born in 1994, speaks three languages most days, loves to travel and enjoys writing. She works at the news desk for taz.de and as a freelance culture journalist. A few years ago, she slipped into an existence as a digital nomad and has felt quite comfortable in this role ever since. For her, home is not a place, but a feeling. She studied social and Cultural Anthropology, Theatre and Cultural Journalism in Berlin and was a frequent theatregoer. She also studied in Uppsala, Sweden, and spent a lot of time there in forests and around campfires.

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