Lisa Lucassen: „Rein durch die Augen, raus durch den Mund.“

Das Performance-Kollektiv She She Pop hat in den 25 Jahren seines Bestehens ein Stück Theatergeschichte geschrieben. Wir sprachen mit Gründungsmitglied Lisa Lucassen über ihre zum Theatertreffen geladene Produktion "Oratorium" - und den kleinen Machtbereich der Kunst.

Das Performance-Kollektiv She She Pop hat in den 25 Jahren seines Bestehens ein Stück Theatergeschichte geschrieben. Wir sprachen mit Gründungsmitglied Lisa Lucassen über ihre zum Theatertreffen geladene Produktion „Oratorium“ – und den kleinen Machtbereich der Kunst.

TT-Blog: Lisa Lucassen, herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Berliner Theaterpreis und zur Theatertreffen-Einladung für „Oratorium“! Wie genau haben Sie dieses partizipative Stück erarbeitet?

Lisa Lucassen: Logistisch ist dieses Projekt der Voll-Horror, denn es hatte eine sehr lange Vorbereitungsphase. Bei uns geht es immer damit los, dass wir einen Antrag an eine Institution schreiben. In diesem Fall war es die Kulturstiftung des Bundes, da wir nicht nur in Deutschland recherchiert haben, sondern auch in Polen (Lublin) und in Bulgarien (Sofia). In beiden Städten waren wir zu Festivals eingeladen und hatten dort jeweils zunächst Recherchephasen mit einem dortigen Chor der lokalen Delegierten. Anschießend haben wir bei den jeweiligen Festivals etwas zur Aufführung gebracht, was aber nicht das Selbe ist wie das Stück, das man jetzt beim Theatertreffen sieht.

Zudem gab es noch eine Phase in Hannover, wo wir eine Voraufführung beim Festival Theaterformen hatten. Anschließend haben wir quasi nochmal von vorne angefangen und unsere lokalen Delegierten in Berlin um uns versammelt, mit denen wir dann das Stück zur Aufführung gebracht haben. Dem sind etliche Interviews mit Menschen in Berlin und Improvisationen vorangegangen, aus denen wie sehr viel Text aufgenommen und das Stück gestrickt haben. Diese Menschen sind aber nicht diejenigen, die nun im Chor sind, was meistens logistische und Zeitgründe hatte. Das heißt die jetzigen Chormitglieder sind in null Fällen diejenigen, deren Texte gesprochen werden, die lokalen Delegierten sind nicht unsere Autor*innen. Das übersieht man leicht, aber es ist dafür, wie das Ganze entstanden ist, und wessen Text da gesprochen wird, eben von entscheidender Wichtigkeit.

TT-Blog: Zentrales Thema des Stücks ist die Partizipation des Publikums nach Brechts Lehrstücktheorie. Warum haben Sie sich dazu entschieden, das Publikum nur insofern einzubinden, als dass es sich mit fertigem Text zu einem Chor zusammenschließt? Warum wurde das Ganze nicht noch mehr geöffnet und Raum geschaffen für spontane Partizipation? War das eine bewusste Entscheidung?

Lisa Lucassen: Es gibt ganz winzige Stellen für spontane Partizipation und zwar von den Erb*innen. Menschen, die etwas geerbt haben oder erben werden, werden aufgefordert, auf die Bühne zu kommen und dann zu benennen, was das ist, beziehungsweise welcher Geldbetrag das ist oder sein wird. Das ist das Einzige. Wir dachten, wir können das vermutlich nicht kontrollieren, wenn wir so eine richtige Diskussion aufmachen, ein Forum bieten. Dass wir die Kontrolle behalten, ist in vielen Situationen nicht so wichtig. Wenn man aber versucht, einen Theaterabend zu zeigen, der nicht über zwei Stunden dauern soll, dann ist es ganz gut, wenn man irgendwie die Kontrolle über die Gesamtsituation behält. Außerdem kann der Chor auf der Bühne nicht spontan reagieren. Deshalb ist er nicht in der Lage, eine Situation, die in gewisser Weise aus dem Ruder läuft, oder die auch nur zu einem bestimmten Ende gebracht werden soll, adäquat zu behandeln. Der Chor kann nicht spontan antworten. Deswegen haben wir entschieden: Gut, dann bleibt es fair auf beiden Seiten und niemand redet spontan, die spontane Rede kann anschließend in der Kneipe stattfinden.

Die Fahnenträger*innen kollektiver Verdrängungserfahrungen. „Oratorium“ von She She Pop. Foto (c) Benjamin Krieg

TT-Blog: She She Pops Modell, Kunst zu machen, funktioniert nun seit mehr als 25 Jahren. Für viele sind Sie Vorbild. Gerade von der jüngeren Generation Theaterschaffender höre ich oft den Wunsch nach mehr kollektiver Zusammenarbeit, nach anderen Arbeitsstrukturen an den Theatern und flachen Hierarchien. Dass das bei Ihnen nun schon so lange funktioniert, ist ja erst einmal bemerkenswert. Wie funktioniert das?

Lisa Lucassen: Es funktioniert natürlich, weil es eine wahnsinnig gute Idee ist! Und wir freuen uns gerade auf eine nahezu mütterliche Weise über diese ganzen Jungen Leute, die jetzt denken: „So, ich habe fertig studiert, wo ist mein Kollektiv, wie fängt das an?“ Ich habe vollstes Verständnis für alle, die in den hierarchischen Strukturen von Stadttheatern nicht arbeiten möchten oder können. Als wir angefangen haben, sind wir immer wieder in die Stadttheater gelaufen und ausgelacht worden, weil wir nicht bereit waren, unseren Chef auszuliefern und in die Besprechung zu schicken. Da hat sich die Lage extrem gebessert, das ist mittlerweile kein skurriles Hobby mehr von irgendwelchen Knalltüten. Jetzt, mit unserer zweiten Theatertreffen-Einladung und der Auszeichnung mit dem Berliner Theaterpreis, fühlen wir uns auf eine merkwürdige Weise von Seiten gelobt, von denen wir das nicht erwartet hatten. Meine Kollegin Ilia Papatheodorou hat letztens gesagt: „Gegen Lob ist man machtlos“.

„Es ist nur so halb ernst, was man im Theater tut. Aber deshalb kann man sich auch viel mehr trauen.“

Da kann ich jetzt auch nicht mehr so viel schimpfen, denn ich finde diese Entwicklung sehr angenehm, dass das mittlerweile eine akzeptierte Daseins- und Kunst-mach-Form zu sein scheint. Das ist doch toll, das ist Fortschritt. Trotzdem passen Kollektive nach wie vor nicht gut in Stadttheaterstrukturen. Es ist für beide Seiten sehr viel Arbeit, zusammen zu arbeiten. Aber dafür gibt es ja die Freie Szene. Da ist zwar nicht so viel Geld zu finden und nicht so viel Luxus, aber: Viel Solidarität und Freiheit – die man allerdings teuer bezahlt. Wenn man ein junger Mensch ist und überlegt, Kunst zu machen, ist das vielleicht auch etwas, was man in seine Überlegungen mit einbeziehen kann.

TT-Blog: Wir sind kurz vor der Europawahl. Wir sind in Zeiten, in denen sich rechte Kräfte wieder laut formieren und gezielt Freiheiten, besonders auch die Kunstfreiheit, angreifen. Die Kunst-und Kulturszene wehrt sich mit Zusammenschlüssen wie „Die Vielen“ aktiv dagegen. Meinen Sie, das reicht? Was kann die Kunst konkret tun, um sich zu wehren?

Lisa Lucassen: Ich habe immer Angst, wenn die Kunst sich überschätzt. Denn ich glaube, das ist leider, so blöd ich das auch finde, eine ziemlich elitäre Angelegenheit. Viele Menschen kriegen leider überhaupt gar nichts von dem mit, was wir den lieben langen Tag machen. Deswegen habe ich Angst davor, dass wir Künstler*innen unsere Macht überschätzen. Gleichzeitig ist aber das Theater gut dafür, Utopien aus- und anzuprobieren, eine alternative Form zu den Haifischbecken da draußen vorzuleben. Und zwar probehalber — also im geschützten Rahmen des Theaters mit all seinen Vor- und Nachteilen. Das ist nämlich nur so halb ernst, was man da tut. Aber deshalb kann man sich auch viel mehr trauen. Wie es bei Brecht in der Lehrstücktheorie so schön heißt: Ausprobieren von Haltungen, Aussprechen der Worte. Wie beispielsweise in „Oratorium“: Rein durch die Augen, raus durch den Mund, bestimmte Texte einfach mal sagen. In Brechts Theorie verändert einen das, wenn man es macht. Theater kann Vorschläge machen dafür, wie es sein sollte und eben nicht nur abbilden, wie es ist. Darin sehe ich die Chance und den Beitrag, den das Theater und auch andere Kunstformen leisten können. Das ist nicht nichts, aber es ist auch nicht alles.

Die Fragen stellte Dilan Zuhal Capan.

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Dilan Zuhal Capan

Freischaffende Nachwuchs-Autorin / Künstlerin in Berlin. Hauptdisziplinen: (visuelle) Lyrik, szenische & bildende Künste, Essayistik. Aktuell außerdem: Studentin der Theaterwissenschaft / Philosophie & Regieassistentin.

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