„Common Ground“ von Yael Ronen wurde bei der Festspielpremiere am Donnerstag im Gorki Theater mit der Urkunde besonders bemerkenswert ausgezeichnet. Viel bemerkenswerter war, wie viele Menschen beim Applaus aufstanden und mit dem Klatschen gar nicht aufhören wollten.
Im Hitlist-Format einer MTV-Sendung fliegt einem die Geschichte der letzten 20 Jahre um die Ohren. Sieben Schauspieler*innen spielen sich die Moderation zu wie bei einem Ballwechsel auf dem Fußballfeld und lassen ein Mashup aus biografischen Schnipseln, Nachrichtenjargon, VIP-Gossip und Sportevents auf das Publikum herabregnen. Im Hintergrund flimmert ein projiziertes Muster aus schreiend bunten Fernseherbildschirmen.
Was sich hier als rauschhafter Bildexzess im Tonfall sensationsheischender Berichterstattung immer schriller steigert, ist eine Collage aus sieben Geschichten vom Erwachsenwerden in den 90ern. Ein Erwachsenwerden, das in derselben Zeit, aber nicht in derselben Welt verortet zu sein scheint.
Denn zwischen Informationen wie dem Selbstmord Kurt Cobains, der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens und Sloweniens, Steffi Grafs Sieg in Wimbledon, Erdbeben in Nicaragua und Friedensverhandlungen zwischen Jordanien und Israel, drängen sich in einem irren Tempo ganz persönliche Geschichten abseits medialer Berichterstattung. Das sind Geschichten von einer Kindheit und Jugend innerhalb und außerhalb des Jugoslawienkrieges. Lebensgeschichten der sieben Schauspieler*innen, die in den nächsten anderthalb Stunden nicht mehr nur ihre eigene Geschichte neu erzählen werden, sondern auch ihre gemeinsame.
Es ist nicht das erste Mal, dass die isralische Regisseurin Yael Ronen mit den Biografien ihrer Schauspieler*innen arbeitet. Für „Common Ground” hat sich das bunt zusammengewürfelte Ensemble auf eine fünftägige Busreise in die alte Heimat Bosnien begeben und daraus ein Stück entwickelt. Klingt erst mal, wenn man ganz ehrlich ist, mäßig spannend.
Ich erwartete ein Stück vollgestopft mit dokumentarischen Videoprojektionen und charakteristischen Aufnahmen der Landschaft. Ich erwarte ein Stück, das besser ein Dokumentarfilm geworden wäre. Ich bin total voreingenommen, weil ich nur gutes über dieses Stück gelesen habe und kollektives Bejahen immer großes Mißtrauen in mir auslöst.
Stattdessen scheinen die Szenen oft seltsam modellhaft. Fast wie an einem Ort, wo die Realität selbst zu Bausteinen wird, mit denen variabel umgegangen werden kann. Holzkisten als einzige Bühnenelemente werden zu Türmen und Städten, die am Busfenster vorbeiziehen, oder verwandeln sich in Sitzreihen im Bus. Dann transformiert sich ein Riesenkistenturm in ein Kriegsdenkmal und wird in Sekundenschnelle zur Hotelbar umgebaut, wo die Reisegruppe schlaflos zusammenkommt.
Der dokumentarische Bezug ist vielleicht deshalb auch überflüssig, weil hier alle sowieso sich selbst zu spielen scheinen – zumindest auf den ersten Blick.
Aleksandar Radenković ist Aleks, der in Deutschland in Sicherheit aufwächst, während seine Familie im Kriegsgebiet bleibt. Dejan Bućin ist Dejan, der auf die Frage vom kleinkarierten Niels, ob er denn nun Serbe sei, mit einer Familienaufstellung kontert, die die Frage nach nationaler Identität hinfällig macht. Niels Bormann ist der etwas faktensüchtige, plumpe deutsche Niels, der sich beim Publikum dafür entschuldigt, dass Orit aus Israel Englisch in einem deutschen Theater spricht. Was Orit und Niels teilen, ist die Erleichterung darüber, dass in die auf dieser Reise thematisierten Kriegsverbrechen weder Israel noch Deutschland involviert sind. Obwohl die Fragen nach Schuld und möglicher Versöhnung mindestens genauso viel mit diesen beiden Außenstehenden zu tun hat wie mit allen anderen. Nur die Label der Nationalitäten sind andere, die Parameter bleiben dennoch ähnlich.
Dann ist da noch die muslimisch-serbische Vernesa Berbo, die später nach der Vorstellung im Foyer serbische, montenegrinische und kroatische Lieder singen wird, weil die Musik das einzige ist, was noch irgendwie vereint.
Mateja Meded spielt nicht Mateja, sondern Jasmina Musić und umgekehrt. Beide kommen aus demselben Ort, beide haben keine Väter mehr. Jasminas Vater war Gefangener in einem Konzentrationslager, in dem Matejas Vater Aufseher war. Jasminas Vater ist tot, Matejas Vater verschwunden. Irgendwann gegen Ende des Stückes sagt Jasmina, die eigentlich Mateja ist: „In einer parallelen Welt muss ich Matejas Leben leben und sie muss Jasmina sein.“
Diese Parallelwelt ist das, was dieser Abend paradoxerweise über einen dokumentarischen Zugang eröffnet. Ich frage mich während des ersten Teils des Abends öfter, warum Yael Ronen und ihr Ensemble nicht einfach eine filmische Dokumentaion über diese Reise veröffentlicht haben. Warum erzählt man eine Geschichte, die sich real abgespielt hat, nochmal auf der Bühne mit denselben Akteuren nach? Weil es nicht eine Geschichte darüber gibt, was diese Menschen auf dieser Reise erlebt, gefühlt oder womit sie gekämpft haben. Es gibt sieben Geschichten darüber, die sich mal kreuzen und wieder weit auseinander bewegen, obwohl alle im selben Bus sitzen.
Dieses Stück ist eine Modellsimulation für multiperspektivische Geschichtsschreibung und vor allem viele unterschiedliche emotionale, wenn auch subjektive Erzählungen der Wirklichkeit.
Auf Subjektivität und konkret auf viele innere Monologe zu setzen − hieße das denn nicht die Suche nach einem gemeinsamen Moment aufzugeben? Ist das nicht gerade dann eine riskante Vorgehensweise, wenn es um die Subjektivität zweier Fronten und um Schuldfragen geht?
Im Gegenteil. Man hat immer wieder das Gefühl, da stehe eine Großfamilie auf der Bühne. Man ist irritiert und eigentümlich berührt davon, dass diese Inszenierung bei all der Brutalität der Erzählungen über Krieg und Einsamkeit etwas sehr, sehr Zärtliches hat.
Ganz selten bleiben die Schauspieler*innen alleine, während sie dem Publikum erzählen, was zwischen Buspolstern oder an der Hotelbar unausgesprochen bleibt. Im Hintergrund illustrieren oft andere das Erzählte pantomimisch und werden so in der Nacherzählung nicht nur Teil der Geschichten, sondern rücken an die Stelle von Menschen, die es vielleicht sonst nur noch in der Erinnerung gäbe. Es hat etwas rührendes, wenn Orit vom Bombenangriff auf Israel erzählt und alle anderen mit ihr unter eine große Plane schlüpfen, die stellvertretend für den Bunker steht. Oder wenn Dejan über seinen Stammbaum referiert und der Rest des Ensembles seine Vorfahren in bunten Balkanröcken mimt. Wenn Mateja und Jasmina die Rollen tauschen, dann weil das verbindende Gefühl des Verlustes stärker ist als die Wut auf diejenige, die sich ihren Vater genauso wenig ausgesucht hat, wie ihre Nationalität und sie trotzdem nicht ablegen kann. Vielleicht ist es eine Neuerzählung von altem, in der niemand mehr alleine sein muss, weil das Gefühl der Einsamkeit nicht an Nationalitäten, sondern ans Menschsein gekoppelt ist.
Common Ground
von Yael Ronen & Ensemble
Regie: Yael Ronen, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Lina Jakelski, Video: Benjamin Krieg/Hanna Slak, Dramaturgie: Irina Szodruch, Musik: Nils Ostendorf
Mit: Vernesa Berbo, Niels Bormann, Dejan Bućin, Mateja Meded, Jasmina Musić, Orit Nahmias, Aleksandar Radenković
www.gorki.de