Sprachlos verlassen die Zuschauer den Theatersaal. Eine seltsame Bedrückung liegt in der Luft. Einer sagt zu seiner Freundin: „Das mit dem Biertrinken können wir jetzt wohl vergessen.“ Dann schweigt er wieder. Beim anschließenden Publikumsgespräch wird klar: „Hate Radio“, das eine Radiosendung während des Genozids in Ruanda authentisch wiederaufführt, hat die Zuschauer zutiefst mitgenommen, traumatisiert.
„Trauma“ ist so etwas wie die Allzweckwaffe im kulturwissenschaftlichen Diskurs, gern wird der Begriff hinzugezogen, wenn etwas irgendwie „unerklärbar“, wenn Ursache und Wirkung nicht kausal verbunden sind, wenn Symptome ohne Ursachen auftreten (ein Genozid ist so ein Symptom – die Ursache derartiger Gewaltexzesse ist „nachträglich“ nicht mehr nachzuvollziehen). Aber was ist ein „Trauma“ überhaupt? Den Medienwissenschaftlern Cathy Caruth und Thomas Elsaesser nach werden Traumata als Ereignisse betrachtet, welche die Kapazität der Psyche zur Reizverarbeitung übersteigen und nicht-assimiliert außerhalb der bewusst zugänglichen Psyche weiterexistieren. Nur mit Hilfe einer sinnstiftenden Narration können Traumata „nachträglich“ in die Psyche integriert, assimiliert und verarbeitet werden.
Warum wirkt „Hate Radio“ so traumatisierend auf den Zuschauer? Mit der Entscheidung, den Genozid in Form des Reenactments auf der Bühne zu re-präsentieren, stellt „Hate Radio“ die Frage nach der Möglichkeit von Geschichte neu. Geschichtsschreibung funktioniert gemeinhin als Erzählung, die um Protagonisten herum konstruiert ist, die aus mehr oder weniger nachvollziehbaren Gründen handeln. Das Reenactment aber, welches „Vergangenes“ dokumentarisch wiederaufführt und ins Heute verpflanzt, überspringt die für die Traumaverarbeitung nötige Zeitdifferenz: die „Nachträglichkeit“. Die Möglichkeit der Assimilation des Traumas in die Psyche wird also von vorneherein suspendiert: Anstatt das Trauma des Völkermords retroaktiv zu bearbeiten, löst die Ausschnitthaftigkeit der Radiosendung (davor und danach wird weitergesendet) und die antidramatische Struktur des Geschichtserlebens auf der Bühne eine Reaktivierung der Traumata aus.
Zum Vergleich: Vor einigen Jahren wurde der Genozid mit bereits von Hollywood in „Hotel Ruanda“ „aufbereitet“. Es wird die Geschichte des Hotelmanagers Paul Rusesabagina erzählt, der unter Einsatz seines Lebens Hunderte von Tutsi vor den Hutu-Milizen rettet. Nachträglich wird hier ein schockartiges Ereignis, auf das in der Geschichte nicht reagiert werden konnte (z.B. durch die Blauhelme), retroaktiv bearbeitet: Ähnlich wie in „Schindlers Liste“ wird durch die Integration des Traumas in eine sinnhafte Erzählung, eben eine Rettungserzählung, aus einer Liste der Toten eine Liste der Lebenden. Im Gegensatz dazu verweigert „Hate Radio“ die narrative Sinnstiftung: Es gibt keine „Helden“-Erzählung in einem Genozid. Zwar werden Berichte von Überlebenden projiziert, doch die können auch keine kausalen oder sinnhaften Erklärungen liefern, sie versprachlichen vielmehr die Sprachlosigkeit ob der über das eigene Leben hereinbrechenden Ereignisse. „Hate Radio“ lässt den Zuschauer ratlos im post-traumatischen Sinnvakuum zurück und „an die Stelle der Gewinnung von generalisierbarem gegenwartsdienlichem Wissen aus der Vergangenheit mittels stabiler Erzählungen [tritt] tendenziell ein bloßes Konstatieren der Faktizität moderner Ereignisse. Mit anderen Worten: ‚History happens‘“ (1).
Aber dieses Gefühl von „Geschichte passiert“ im Zuschauer ist kein indifferenter, schulterzuckender Relativismus, vielmehr ist es ein Schutzmechanismus gegen die erlernte Hilflosigkeit im Umgang mit den Krisen dieser Welt, die in immer schnelleren Zyklen medial vermittelt unsere Aufmerksamkeit verlangen und uns mit keiner davon „fertig werden lassen“. In „Hate Radio“ wird das Trauma der Hilflosigkeit, das durch Medien vermittelte Bilder von Kindersoldaten, Hungersnöten, etc. entstanden ist, wieder aufgerufen. Insofern wirkt das Reenactment einer Radioshow wie ein doppelter Boden: Der Zuschauer ist mit medial vermittelten Bildern des Elends vor-traumatisiert und durch den erneuten Einsatz ebenjener Medien im Theater werden diese Traumata re-aktualisiert, quellen aus dem Unterbewussten hervor und verbinden sich mit den im „Hate Radio“ gehörten Schockerzählungen – und der Zuschauer kann wieder nichts dagegen tun.
Wichtig ist auch die Rahmung des Reenactments durch die Ästhetik der Authentizität: Immer wieder wird im Vorfeld betont, wie viel Wert man auf eine authentische Darstellung der Ereignisse gelegt hat. Im Programmheft erklärt Milo Rau, man habe unendlich viel Material gesichtet, Radiosendungen gehört, Musik katalogisiert, Interviews mit Tätern und Opfern geführt, sogar das Studio wurde exakt nachgebaut. Die Darsteller sind zum Teil „Erinnerungsträger“: Nicht nur sind sie Schauspieler, nein, sie waren auch wirklich „dabei“. Die Tradierung von Historie durch diese Körper, die Geschichte erlitten haben, durch diese „Zeit-Zeugen“, authentifiziert das Reenactment zusätzlich. Diese Konstruktion von „Hate Radio“ als authentische Re-Konstruktion einer Radiosendung während des Genozids („es ist geschehen“) in Kombination mit der erlernten Hilflosigkeit der Zuschauer („und wenn es wieder geschieht, kann ich nichts dagegen tun“) macht vielleicht einen Hauptteil der traumatisierenden Wirkung von „Hate Radio“ aus.
Die Besetzung der „Täter“-Figuren mit Schauspielern, die selbst zum Teil unter den Opfern des Genozids waren, weist über reine Besetzungsfragen („Wir brauchen jemanden, der Kinyarwanda spricht”) hinaus: Das Ethnien-Konzept ist arbiträr, jeder hätte auch in die andere Ethnie hineingeboren sein können, und das Morden hätte umgekehrt stattfinden können. Es geht bei „Hate Radio“ nicht nur um den ruandischen Genozid, um den Konflikt zwischen Hutu und Tutsi, es thematisiert Strukturen der Demagogie, des Hasses und der Gewalt im Allgemeinen. Und so lautet auch der letzte Satz eines Überlebenden: „Nein, ich glaube nicht an das Ende der Genozide. Ich glaube nicht, dass wir zum letzten Mal diese schlimmste aller Grausamkeiten erlebt haben. Wenn es einen Genozid gegeben hat, dann wird es noch viele geben.“. Das Trauma geht weiter.
[Literatur: Elsaesser, Thomas (2001): Postmodernism as mourning work. In: Screen 42/2 Sommer 2001
Meek, Allen (2010): Trauma and Media. Theories, Histories, and Images. New York: Routledge Research
(1) Robnik, Drehli (2002):. Körper-Gedächtnis und nach trägliche Wunder. Der Zweite Weltkrieg im traumakulturellen Kino. In: zeitgeschichte, November 2002]