Unruheland Ungarn?

So titelte die März-Ausgabe von „Theater der Zeit“. Was denken ungarische Kritiker und Theaterschaffende, die über das Berliner Theatertreffen berichten, von den Vorgänge in ihrem Land? Ich treffe Krisztián Faluhelyi, der an der Eötvös Loránd Universität in Budapest über Brecht und Lars von Trier promoviert und für die ungarische Theaterzeitschrift „Színház“ schreibt, und die ungarische Theaterwissenschaftlerin und Humboldt-Stipendiatin Gabriella Kiss zu einem Gespräch.

Ungarn am Theatertreffen: Gabriella Kiss und Krisztián Faluhelyi. Foto: Fadrina Arpagaus

Katastrophenalarm aus Ungarn. Die neue Rechtsregierung um Viktor Orbán hat nicht nur das umstrittene Mediengesetz durchgesetzt, sondern soll auch einen richtigen Kahlschlag im Kulturbereich planen. Schon ist bekannt, dass der Etat des Nationaltheaters in Budapest um 1,5 Millionen Euro, also rund 20 Prozent des Budgets, gekürzt werden soll. Auch die freie Szene, die sich erst in den letzten zehn Jahren so richtig entwickelt hat, ist betroffen. Als ich Krisztián Faluhelyi nach den Vorgängen in seinem Land frage, erwarte ich Empörung, Wut, Aufstandsgedanken. Statt Katastrophen- aber erst einmal Fehlalarm: „Ich denke in vielen Hinsichten anders als die neue Regierung, ich habe eine eher linke Weltanschauung. Aber was das Mediengesetz betrifft, möchte ich mit einer Einschätzung noch etwas abwarten und schauen, was passiert. Ich halte den Aufruhr für übertrieben.“

Eine solche Antwort habe ich von einem Theaterkritiker nicht erwartet. Krisztián erklärt mir, warum er so gelassen ist: Noch ist in Ungarn vieles Gerücht. Niemand kann die Pläne der Regierung wirklich überprüfen. Und neutrale Sprecher gibt es gerade nicht, die Berichterstattung ist extrem politisch aufgeladen, und zwar von links wie von rechts. „Im Moment sehe ich weit und breit niemandem, dem ich vertrauen kann“, sagt Krisztián. „Und darum möchte ich weder auf die eine noch die andere Richtung einschwenken.“ Krisztiáns Kollegin Gabriella Kiss stelle ich die gleiche Frage: „Wie stehst du zum neuen Mediengesetz und den geplanten Kulturkürzungen?“ Ihre Gegenfrage: „Muss ich wirklich darauf antworten?“ Langsam beginne ich zu begreifen, dass meine Sehnsucht nach einer klaren Antwort ins Leere laufen wird. „Es gibt so viele Interpretationen. Es ist gut, dass Zeitschriften wie Theater heute und Theater der Zeit über die Vorgänge in Ungarn berichten. Aber sie vereinfachen. Was gerade passiert, sind die Folge einer langen Geschichte, die nicht erst mit der neuen Regierung begonnen hat.“

Ich beginne zu verstehen: In den letzten acht Jahren gab die vorherige links-liberale Regierung auch nicht gerade einen Vorgeschmack aufs Paradies. Zum Beispiel hat sie das Roma-Problem ungelöst zurückgelassen, statt sich um Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für die Minderheit zu kümmern. Und die Frage, wie die staatlichen Gelder fürs Theater verteilt werden, kommt nicht erst seit dem Rechtsrutsch aufs Tapet. Seit der Wende ringt das ehemals sozialistisch organisierte ungarische Theatersystem mit fast 30 staatlichen Theatern allein in Budapest, um ein neues Finanzierungsmodell. Ähnlich geht es der freien Szene, die ebenfalls von staatlichen Geldern lebt. Der Verteilungskampf hat schon lange vor Orbán begonnen.

Gabriella macht sich vor allem Sorgen um die kritischen Wissenschaften, aber auch um die freie Theaterszene, die sich in den letzten Jahren sprunghaft und mit großer Experimentierlust entwickelt hat. „Das größte Problem für die Theater ist der Konservativismus der neuen Regierung, die ja die Intendanten einsetzt. Vor allem auf dem Land: Was es dort zu sehen gibt, ist schlicht und einfach Kommerz, schlechtes Volkstheater. Aber auch Róbert Alföldi, der Intendant des Nationaltheaters in Budapest, ist in letzter Zeit ziemlich stark bedrängt worden…“ Schon wieder wittere ich einen kleinen Skandal: „Glaubt ihr, das liegt an seiner Homosexualität?“ Gabriella schüttelt den Kopf, plädiert für eine komplexere Problemstellung. „Das Nationaltheater ist das erste Theater, an dem nach der Unabhängigkeit auf Ungarisch gespielt wurde. Es ist das einzige Theater, das nie nach ästhetischen Gesichtspunkten, sondern nur nach seiner politischen Bedeutung beurteilt worden ist. Für eine rechtspopulistische Regierung ist es natürlich ein nationales Symbol. Da ist jemand wie Alföldi, der in Ungarn als innovativ gilt, auch wenn er im europäischen Vergleich kein progressiver Regisseur ist, der Regierung ein Dorn im Auge.“

Ein wenig später sitze ich in der Vorstellung „Die Beteiligten“. Wie passend, denn Kathrin Rögglas Stück zeigt, dass die Freiheit oft da endet, wo die Medien beginnen. Und ich stelle mit Schrecken fest, dass das auch für mich gilt: Ich habe eine klare Antwort gesucht und mir ein flammendes Statement gegen die ungarische Regierung gewünscht. Aber Krisztián und Gabriella haben sich nicht mit mir verbündet. Und dass sie die Dinge weniger eindeutig, dafür aber komplexer auslegen, ist tatsächlich die intelligentere Form von Widerstand als der Schlag in die eine oder andere politische Kerbe. Ich bin entlarvt.

–––

Fadrina Arpagaus, geboren 1980 in Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Berlin. Während ihres Studiums hospitierte und assistierte sie am Schauspielhaus Zürich u.a. bei Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief und Schorsch Kamerun und in der freien Szene Berlins. Danach begann sie eine Dissertation mit dem Titel „Radikale Gefährdung. Subjektkonstitutionen in Theatertexten des 21. Jahrhunderts“ und arbeitete als Journalistin, unter anderem für "der Freitag" und Kulturkritik.ch. Zurzeit ist sie als Dramaturgieassistentin und ab nächster Spielzeit als Dramaturgin am Theater Basel engagiert, wo sie für das Schauspiel den Blog entworfen hat.

Alle Artikel