Utopia darf nicht sterben

Oft wird gesagt, das Theater sei der Raum der Utopien und alternativen Gesellschaftsentwürfe. Aber wie genau könnte das aussehen? Unsere Autorin ist beim Theatertreffen immerhin dreimal fündig geworden.

Oft wird gesagt, das Theater sei der Raum der Utopien und alternativen Gesellschaftsentwürfe. Aber wie genau könnte das aussehen? Unsere Autorin ist beim Theatertreffen immerhin dreimal fündig geworden.

„It is the best time to make some plans for the future and it is time to be happy“, so kommentiert ein Chatbot die Artikel auf unserem Blog. Und vielleicht, ganz vielleicht, hat der Bot ein bisschen recht. Die Welt im Großen und das Theatertreffen im Kleinen machen erst mal nicht viel Stimmung für Happiness: zu viel Unerfreuliches (Stichwort AfD und Theater), zu viel Wiederholtes (Gewalt an Frauen auf und außerhalb der Bühne), zu viel Realsatire (Stichwort eine Villa auf Ibiza und das dort von sich Gegebene), zu viel Unverrückbares, Festgefahrenes, Ungerechtes (Stichworte Diversität, Ungleichgewichte, Diskriminierungen) – zu vieles, was einem den Optimismus im Hals stecken bleiben lässt.

Und wenn die Welt zugrunde geht, dann tut sie das auch am Theater: die Spiegelung eines Zustandes, reine Logik. Bumm, Krach, Katastrophe, Dystopie, Horror, das Ende. Aber ist Theater nicht auch Probebühne für das Gute? Das Neue, Bessere, Andere? Das sind alles Begriffe, deren Abgenutztheit einen erschaudern lässt, so banal klingen sie – ich möchte aber daran glauben, dass auf der Bühne probiert werden kann, wie es besser wäre. Wie eine Gesellschaft auch funktionieren könnte, wie sie schon lange sein sollte. Und entgegen Voltaires Candide möchte ich daher mit Überschwang den Blick auf drei Utopien lenken, die sehr verschiedene „beste aller Welten“ produziert haben.

I. Eine Absage an den Anthropozentrismus

„Estado Vegetal“ besteht zuerst aus einer Frau, die wahnsinnig schnell Spanisch spricht, einer kargen Bühne und einigen Topfpflanzen. Es entspinnt sich ein Monolog, der eigentlich ein vielfiguriges Gespräch ist, in dem Marcela Salinas mit wenigen Gesichtszügen, Ticks und Gestik in verschiedene Rollen hüpft. Nur langsam wird verständlich: Ihr Sohn ist Opfer eines Unfalls geworden, sein Auto ist in einen Baum gerast, der zu sehen war, weil ein anderer Baum auf dem Stromkabel des Straßenbeleuchtung gewachsen war. Sie wittert eine Intrige der Natur: Ist es das Ziel der Pflanzen, Menschen in einen vegetativen Zustand zu versetzen, in dem sie den Pflanzen am nähesten sind? Manuela Infantes Utopie ist die einer Welt, in der sich Menschen und Pflanzen vielleicht bloß durch ihre mehr oder weniger verwurzelte Situation im Boden unterscheiden, jedoch denselben Stellenwert haben: Als Organismen, die entstehen und wieder verschwinden, deren Lebenszeit begrenzt ist und die immer wieder nachwachsen. Infante steht in ihrer Arbeit auf Seite der Pflanzen und experimentiert: Wie es wäre, würden Menschen sich ihnen beugen anstatt sie auszurotten, und der Erde ihre Bestimmung als „big green ball“ überlassen. Eine Absage an den Anthropozentrismus, der in Zeiten von Klimakatastrophen ohnehin überholt scheint.

2. Rückeroberung der Sprache

Nazareth Hassan, ein junger US-amerikanischer Dramatiker, und sein Stück „VANTABLACK“, eines von fünf eingeladenen beim diesjährigen Stückemarkt. Auf Kunstrasen und in Liegestühlen verhandeln fünf Schauspieler*innen Fragen nach rassifizierter Gewalt und dem Status von Afroamerikaner*innen in den USA. Der Text wird auf Englisch gesprochen, der Slang sei ins Deutsche unübersetzbar, heißt es als Begründung. Frappanter als die Sprache noch ist jedoch die Prämisse: Wie würde die Welt aussehen, hätten Afroamerikaner*innen die im 19. Jahrhundert versprochenen Reparationszahlungen viele Generationen später tatsächlich erhalten?

Räume der Eroberung: Szenische Lesung von „VANTABLACK“ beim Stückemarkt. Foto (c) Eike Walkenhorst

Zwischen Hip-Hop und Grillwürstchen wird diese potentielle Zukunft in collagenhafter Manier besprochen: Mal werden Rachefantasien geäußert, mal werden Privilegien in Alltagsszenen anprobiert. Und mal wird einfach zugehört dabei, wie jene sprechen, denen oft zu wenig zugehört wird, im Theater und außerhalb. Sie alle antworten auf die Frage „When did you realize you were black?“ Hier wird deutlich, dass Sprache und Raum Macht sind – und dass deren Rückeroberung die Verhältnisse, wenn auch nur ein bisschen, geraderücken kann.

3. Gemeinschaft erleben

Zehn Stunden auf unbequemen Theatersesseln zu sitzen, klingt erst mal mehr nach Qual als nach lebensverändernder Utopie. Und sicher wäre ein kleinerer, intimerer Saal ein besserer Raum dafür gewesen – aber Verbundenheit entsteht auch bei über 1000 Plätzen. Was als „Antikenmarathon“, „Theaterevent“ und „Nackt-Party“ beschrieben wurde, ist abgesehen von seiner Dimension vor allem eine gemeinschaftliche Erfahrung: Die Utopie liegt hier in der Struktur des Abends, nicht in ihren Themen. Ein leidender Prometheus, der Krieg von Troja und seine Troerinnen und die tödliche Badewanne aus der Orestie-Trilogie zeigen in Christopher Rüpings „Dionysos Stadt“ deutlich, wie gut der Mensch darin ist, sich und seine Welt zu zerstören. Und das seit vielen, vielen Jahren! Aber im Theatersaal, auf der Pausenparty und beim Nachdenken darüber, wie viele Jahre er wohl noch zu leben hat und wie viele die Sitznachbarin noch vor sich hat, da ist er plötzlich vereint. Und betrachtet gemeinsam, kurz vor Mitternacht, wie im Theater die Sonne aufgeht.

„It is the best time to make some plans for the future and it is time to be happy“ – vielleicht sind Spamkommentare nicht realistisch, aber doch: Optimistisch.

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Lili Hering

In Wien geboren, aufgewachsen, Theater erfahren. Während des Studiums in Berlin und Istanbul im Film- und Festivalbereich gearbeitet, unter anderem in Tanger, Berlin und Locarno, und nebenher geschrieben. Durch den Master in Kulturjournalismus verstärkt zum Schreiben und zurück zum Theater gefunden.

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