„Zement". Eröffnung als Anrufung der Toten

Gestern Abend wurde das Theatertreffen im Haus der Berliner Festspiele eröffnet. Das TT-Blog-Orchester war dabei und die Blogger schildern hier ihre Eindrücke vom Abend.
Das Theatertreffen wird dieses Jahr so interessant wie nie“, so versprach Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, vor dem ausverkauften Haus. Die Vorfreude, das spürte man gestern im Saal, war groß. Die Frage ist: Was wird dieses 51. Theatertreffen zum interessantesten machen? Vielleicht werden es die Debatten um das gegenwärtige Theater, seine Grenzen und Möglichkeiten, seine Träume und Ansprüche, seine Öffentlichkeit und sein Prinzip der geschlossenen Gesellschaft sein, die in diesem Jahr im  Camp sowohl inhaltlich als auch örtlich gebündelt werden. Dass eine  Diskussion in der Luft liegt, zeigten jedenfalls die eröffnenden Worte von Thomas Oberender und Alexander Kluge.
Das alte Theater sei das neue Leitmedium für das neue Zeitalter, an dessen Morgendämmerung wir stehen, so Oberender. Eine steile These zur Eröffnung, quittiert mit freundlichem Applaus – ob Verkennung der Realität, Zukunftstraum eines Intendanten oder treffende Zeitdiagnose, bliebt zu diskutieren.
Alexander Kluge rief dann die Toten als „Eideshelfer“, wie er es in seiner Rede formulierte, auf den Plan. Drei kurze Filme zeigten uns die beiden nicht nur gestern viel Vermissten: Heiner Müller schreibend, rauchend, erzählend und Dimiter Gotscheff Müller lesend, laut, dessen Texte ihn so sehr faszinierten und bis zum Ende sein Leben und Arbeiten begleiteten. So wie Gotscheff auf Müller setzt auch Kluge auf die „Solidarität der Toten“, er ruft sie fast beschwörend an, auf dass sie uns mit dem, was von ihnen bleibt, eine Hilfe sind für die Probleme der Gegenwart. Kluge macht deutlich, dass er diese Gegenwart nicht mit einem „Cocon der Aktualität“ verwechselt wissen will, in dem gleich einem Newsticker Information an Information gereiht wird. Das allein kann der komplexen Gegenwart niemals gerecht werden. Das Theater dagegen, in dem die Toten sprechen können, sei ein Ort für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Welchen Grad von Öffentlichkeit Theater tatsächlich zulässt, bleibt noch auszuloten. Kluge wenigstens ist sich sicher, „dass es keine städtische Öffentlichkeit ohne Theater gibt“. (Hannah Wiemer)
Steckbrief zu „Zement“ von Heiner Müller
Regie: Dimiter Gotscheff
Premiere: 5. Mai 2013, Residenztheater München
Handlung: Ein Krieger kehrt nach 3 Jahren zurück und will wissen, was seine Frau gemacht hat
Anzahl der Gefolterten und Ermordeten: ach, viel zu viele ungezählte!
Rekord: schnellster Monolog der Welt
Egal ob sie schnell oder leise sind oder gesungen werden – wenn Njurka (Valery Tscheplanowa), das verstrobene Kind von Dascha (Bibiana Beglau) und Gleb Tschumalow (Sebastian Blomberg), verhungert an der Revolution, von Wäldern, vom Leiden des Prometheus und von seinen zwei mal 3000 Jahren im Kaukasus erzählt, dann hängt man an jedem ihrer Wörter
Als Geist wandelt sie durch das Geschehen, durch Müllersche Sprachgebilde, die von Menschen erzählen, die sich ihr Fleisch wund gerieben haben. Wund an Träumen, Ideologien und einer Revolution – zwischen gemeinsamer Zukunft und dem Egoismus der Liebe.
Als Untote Zeitzeugin ist Njurka stets präsent, so wie auch Dimiter Gotscheff und Heiner Müller den ganzen Abend im Saal anwesend zu sein scheinen – wie sie sich Alexander Kluge vor Beginn der Aufführung herbei gesehnt hatte.
Wenn dann das Drumherum der Eröffnungsfeier vorbei ist und Trophäen verliehen worden sind, dann hämmern sich die pflasternen Grabsteine weiter in unsere Seele, solange bis die Maschinen im Zementwerk wieder laufen und uns kurz in Sicherheit wiegen. (Manuel Braun)
Monumental und pathetisch. Wie ein Theatererlebnis aus längst vergangener Zeit mutet der „Zement“-Stoff an. Der Text von Heiner Müller klingt neunzig Jahre nach seinem Erscheinen als Roman und vierzig Jahre nach seiner Uraufführung als Drama, hohl und nicht mehr zeitgerecht.
Dennoch konnte der bulgarische Theatermacher Gotscheff nicht von diesem Textepos lassen. Sein Beginn war Müller und sein Finale auch. Mit dieser Inszenierung hat Gotscheff ein letztes Mal sein Können unter Beweis gestellt und mit einem schauspielerisch brillanten Ensemble dem Text eine Form gegeben, die das schwermütige Szenario zwischen Revolution, Enttäuschung und Erschöpfung zu einem bemerkenswerten Stück Kunst formiert. (David Winterberg)
Zur Leichenbleiche geschminkte Gesichter. Wandelnde Totenmasken ohne Körper. Ein Grund, der jedes Gleichgewicht stört, verschlingt und wieder auszuspucken scheint. Eine Frau und ein Mann müssen schmerzlich erkennen, dass die neue Ordnung ihnen alle Liebesfähigkeit aus den Leibern gerissen hat und sie nurmehr als leere Hüllen zurückbleiben, fähig letztlich nur noch zum gemeinsam zelebrierten Schmerz. Alle Nähe ist verloschen. Klagelieder längst Verstorbener. Untoter. Das Geisterkabinett der in Zynismus und Grausamkeit verkehrten Revolution hinterlässt ein schales Gefühl. Und die bohrende Frage, wie lebendig man selbst sein Leben lebt. (Jannis Klasing)
Zement, ein nicht zu greifender Stoff, zerrinnt zwischen den Fingern beim anheben. So, wie die faulen Früchte der Revolution in der Morgendämmerung eines Zeitalters. Als ein von Sehnsüchten nach seiner Heimat, seinem Kind und seiner Frau Dascha (Babiana Beglau) getriebener Mann, kommt Gleb (Sebastian Blomberg) in einen gestörten Grey Cube. Die Revolution ist soweit geglückt, als dass alles nicht mehr seins ist.
Der kahle Raum in zementgrau scheint sich zu sträuben, ein riesiges Podest bringt die Figuren in Schieflage. Die Kostüme der Spieler werden in Fetzen gerissen. Der Krieg ist den Charakteren dick ins Gesicht geschminkt.
Mit wenigen Elementen erzählt der Bühnen- und Kostümbildner Ezio Toffolutti in Dimiter Gotscheffs letzter Inszenierung  „Zement“, wie die Revolution ihre eigenen Kinder frisst. Ein Mantel von Geborgenheit gibt Gleb seine heroische Pose zurück und den Mut, das Zementwerk wieder zu beleben, was durch das Aufschlagen von Steinen sehr gut sichtbar gemacht wird. Warum es aber dann zu einer Kinderzeichnung werden muss und nicht in ganzer Größe im Kopf entstehen darf, ist das einzige, das nicht plausibel wird an einer sonst so gewaltigen Bühne. Diese erhebt sich nun schlussendlich selbst, wie der Phönix aus der Asche, und lässt die Arbeiter fallen.
Als das Podest wieder seine Ursprungsposition eingenommen hat, ist die erste Runde der Säuberung der Genossen vollendet. Dem Erbauer ist der – erfreulicherweise einzige –  Sack Zement zwischen den Finger zerronnen. So, wie auch sonst alle Hoffnungen. Der Antagonist Badjin (Aurel Manthei) hat die Revolution zu seinen Gunsten in Papier erstickt. (Felix Ewers)
A crowd of people in rags stares at us in complete silence: Gotscheff’s take on Müller’s Zement begins with a strong image of Soviet Russia in the 1920’s. Interspersed with elements of antique mythologies, it is the story of Gleb Shumalov, a man coming back in his hometown after three years of civil war. What he finds is a tragic self-destructive communist world, where everyone is a potential enemy to kill, where even his wife Dasha became cold and distant – extraordinary Bibiana Beglau. She provides her character with the most subtle variation of voices, from almost inhuman to tender or resolute, as she discloses her past thus reflecting on women’s emancipation. The all piece’s tension is made of this fine balance between disturbing silence and strong sounds, be it actress Valery Tscheplanowa’s deep singing or the sound of a cement’s block being violently laid down by the main character. After a fascinating beginning the piece loses itself in never-ending discussions and speeches until it becomes really unbearable – which could after all be seen as a way to experience the structural heaviness of this damned world.
(Nathalie Frank)
Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.
Foto: Armin Smailovic

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Felix Ewers

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