Ans Theater glauben

Milo Raus „Five Easy Pieces" hat unserem Autor den Glauben ans Theater zurückgegeben. Zum Theatertreffen-Abschluss entwirft er eine Abrechnung mit der Dekadenz, dem Zynismus und der falschen Wiederholung, die eine gefährliche Leerstelle hinterlassen.

Milo Raus „Five Easy Pieces“ hat unserem Autor den Glauben ans Theater zurückgegeben. Zum Theatertreffen-Abschluss entwirft er eine Abrechnung mit der Dekadenz, dem Zynismus und der falschen Wiederholung, die eine gefährliche Leerstelle hinterlassen.

Seitdem ich Milo Raus „Five Easy Pieces“ gesehen habe, glaube ich wieder ans Theater. Aus der Aufführung komme ich mit heller Klarheit und großer Ruhe. Das ist dann wohl diese Katharsis. Dabei hatte ich heftige Diskussionen erwartet, wütendes Türeknallen und heftige Debatten, klang die Stückbeschreibung doch skandalös: Kinderschauspieler*innen spielen die Verbrechen des Kindermörders Marc Dutroux nach. Doch Milo Rau provoziert keinen Skandal. Er hat eine feine Arbeit über die Macht des Spielens gestrickt. Das Credo des Stückes ist: Im Spiel können Menschen ihre Grenzen austesten, Traumata aufarbeiten und Handlungsmacht gewinnen.

„Five Easy Pieces“ ist frei von Ironie und Zynismus. Das ist mutig und sticht heraus, aus den bisher gezeigten Stücken der Zehnerauswahl des Theatertreffens. Anstatt sich redegewandt im Verfall zu suhlen, wie das in der Eröffnungsinszenierung des Festivals, der Tschechow-Adaption „Drei Schwestern“, zu sehen war, ist Milo Raus Stück tastend und respektvoll. Anstatt den Wahnsinn der Welt unreflektiert zu verdoppeln und über uns hereinbrechen zu lassen, wie „Die Borderline Prozession“, macht es das Unfassbare in fünf einfachen Szenen fassbar.

Ablehnung des Zynismus

„Five Easy Pieces“ seziert nicht an irgendwelchen sterbenden Theaterformen herum und es schwingt auch nicht den Hammer, um diese Formen und die dazugehörige bürgerliche Kultur zu zerschlagen. Es nimmt sich aus dem Theater-Baukasten, was es brauchen kann, und setzt etwas Neues zusammen. Dabei entsteht kein hybrides Monster und kein in den Himmel ragender Wahnsinn, sondern eine kleine Form, die auf die Leichtigkeit des Spiels setzt. Das Stück ermöglicht wegen seines spielerischen Umgangs mit der Wiederholung und seiner Ablehnung des Zynismus eine politische Perspektive auf das Theatertreffen.

Wiederholung ist ein großes Motiv des diesjährigen Theatertreffens. Exemplarisch findet sie sich in „Die Borderline Prozession“, die sich in einer redundanten Wiederholung der Welt verfängt. Der Schmerz und Wahnsinn, der täglich auf uns einströmt, werden in ihr zu einem gewaltigen Berg angehäuft, unter dem das Publikum zu ersticken droht. Die Produktion kapituliert vor der schieren Masse der aktuellen Katastrophen und schüttet sie unstrukturiert über dem Publikum aus: Terrorismus, soziale Kälte, Narzissmus, Gewalt, Krieg, Kulturindustrie, Entfremdung, Nationalismus, Populismus… Das Theater erscheint machtlos angesichts dieser Schrecken. Es kann nur dokumentierend mit der Kamera herumkreisen um all den Wahnsinn, wieder und immer wieder. „Die Borderline Prozession“ wird so zu einem Götzendienst vor dem Altar des Schreckens.

Es gibt demnach eine schlechte Wiederholung, die eine Wiederholung des Selben ist und unreflektiert vor sich hin leiert. Aber es gibt noch eine andere Form der Wiederholung, eine Wiederholung mit Veränderung. Friedrich Nietzsches ewige Wiederkunft des Gleichen beschwört diese Wiederholung, die sich an keinem Original mehr misst, die nicht alles gleich macht, sondern das Gleiche immer wieder neu greift. Er meint gerade nicht Wiederkehr der immer selben Jahreszeiten, sondern eine Wiederholung, die das Wiederholte entscheidend verschiebt.

Außenseiter*innen, die sonst keine Stimme haben

Milo Raus „Five Easy Pieces“ lässt Kinderschauspieler*innen die Schrecken der Kindermorde Marc Dutrouxs im Sinne Nietzsches wiederholen. Seine Wiederholung dreht sich nicht im Kreis, denn sie entwickelt in der Wiederholung eine ermutigende Perspektive auf den Schrecken. Sie lässt uns die Verbrechen durch die Augen der Kinder sehen. Die Stärke, der Mut, der Erfinder*innengeist und die Widerständigkeit der Kinder rücken die abgründigen Kindermorde in ein neues Licht. Auch hier wird der Schrecken wiederholt, aber er verwandelt sich dabei. Er bekommt eine Form und fasst das scheinbar Unfassbare. Er wird greifbar und bearbeitbar. Das Stück ist eine leichte Brückenkonstruktion über dem gähnenden Abgrund der Kindermorde, die ganz Belgien in eine Krise stürzten. Es setzt dafür auf die Perspektive der unmündigen Außenseiter*innen, die sonst keine Stimme haben.

„Five Easy Pieces“ vertraut auf seine theatralen und filmischen Formen. Auf der Bühne werden fünf Filmszenen gedreht. Wir sind in einem Aufnahmesetting, in dem gleichzeitig gespielt und gefilmt wird. Alles hat darum einen doppelten Boden, in dem aber kein Verließ ist, sondern ein Sicherheitsnetz. In dieser Doppelung wird die theatrale Form immer mitreflektiert, allerdings nicht, um sie zynisch zu hinterfragen und ihre Schwächen bloß zu stellen, sondern um in jedem Moment bemerken zu können, ab wann das Theater gewaltsam oder pornografisch wird, die Kinder zu ohnmächtigen Opfern macht oder ihnen schadet. Diese Grenzen werden im Spiel ausgehandelt, ohne die Kinder zu verniedlichen oder klein zu machen.

Neben der spielerischen Wiederholung durch die Außenseiterperspektive, ist es vor allem das Fehlen von Ironie und Zynismus, das „Five Easy Pieces“ auszeichnet. Im Vergleich mit Simon Stones „Drei Schwestern“ wird das deutlich. Simon Stones Aktualisierung der „Drei Schwestern“ wirft einen ironischen Blick auf die Gegenwart. Es ist kein liebevoller. Die Figuren wiederholen das ebenso stumpfsinnige wie hochtrabende Gelaber einer zerbröselnden Mittelschicht. Die Inszenierung ist dabei perfektionistisch gesetzt. Ein Rädchen greift ins Andere. Trotzdem bleibt sie hohl. Es fehlen ihr der Respekt vor und die Liebe zu ihren Figuren.

Kreisen um die Krise

Nun könnte man einwenden: Das Stück zeige uns den Zerfall, um uns davor zu bewahren, genauso falsch zu werden, wie seine Figuren. Alles andere wäre Kitsch. Ich würde aber dagegen halten: Die Produktion hat sich selbst aufgegeben. Sie glaubt nicht mehr richtig an das Theater, weil sie nicht mehr an ihre eigenen Figuren glaubt. Ihre Ironie droht in Zynismus zu kippen. Ironie hinterfragt die eigenen Erwartungen und schafft damit eine Distanz, die neue Perspektiven und Rahmungen ermöglicht. Der Zynismus zerstört dagegen alle Erwartungen und lässt einen mit nichts zurück.

Zynismus ist in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ein gefährliches Mittel. Denn die Leerstelle, die der Zynismus hinterlässt, droht heute Populismus und Nationalismus anzuziehen. Die Rechte bläht den allgegenwärtigen Krisendiskurs daher strategisch auf und hofft auf den großen Knall. Sie braucht die Krise und ihre Untergangsstimmung, um den Boden für die eigenen, radikalen Ideen zu bereiten. Das ist auch für das Theater ein Problem, denn die Krisenstimmung wird im Theater ausführlich aufgegriffen. Das ständige Kreisen um die Krise schafft aber eben nicht unbedingt eine Distanz zu ihr. Das Theater ist kein politikfreier Raum und es ist nicht so, dass alles, was auf eine Theaterbühne gebracht wird, per se schon reflektiert und kritisch wäre. Das zeigt sich in „Die Borderline Prozession“ genauso wie in Simon Stones „Drei Schwestern“. Beide Inszenierungen wiederholen den Krisendiskurs auf eine gefährliche Art. Während in „Die Borderline Prozession“ die Distanz zum Wahnsinn der Welt verloren geht, fehlt den „Drei Schwestern“ die Liebe zu ihren Figuren. Der ironische Blick auf den eigenen Verfall droht beständig in Zynismus zu kippen. Die heimlichen AfD-Wähler*innen im Saal der „Drei Schwestern“ könnten sich gedacht haben: „Da auf der Bühne zeigt sich die Krise der linksliberalen Kultur. Sie ist dem Untergang geweiht und hinterlässt eine Leerstelle, die eine starke, nationale und völkische Kultur notwendig macht.“

Zynismus kann eine verhärtete, kristalline Kultur aufbrechen und sie verflüssigen. Auch Nietzsche hat Zynismus eingesetzt, um Raum für seinen Übermenschen zu schaffen. Was die Nazis mit Nietzsches Zynismus gemacht haben, ist bekannt. Nietzsche war mit einigen Streichungen und Auslassungen einfach zu instrumentalisieren. Zynismus ist anfällig für rechte Ideologie, da er Abgründe aufreißt, in die nur zu einfach Menschen geworfen werden können. Es ist eine gefährliche Waffe.

Welle der Untergangsstimmung

Sowohl die „Drei Schwestern“ als auch „Die Borderline Prozession“ stehen auf der Schwelle zum Zynismus. Es gibt diese gefährliche Haltung im Theater: Das Publikum sitzt in seinem samtbezogenen Theatersessel und konsumiert den eigenen Verfall und den katastrophalen Untergang der Anderen in dem sicheren Wissen, dass es selbst als Letztes getroffen werden wird. Diese zynische Haltung ist auch eine Rezeptionshaltung im medialen Krisenlivestream, in dem der Zerfall als Spektakel inszeniert und auf den nächsten Knall gewartet wird. Diese Haltung möchte ich als rechten Dekadenzaffekt bezeichnen. Der Dekadenzaffekt ergötzt sich am Zerfall. Er will den Untergang und fördert die Krisenstimmung. Er ist nihilistisch und folgt Nietzsches bekanntem Satz: „und eher will er [der Mensch] noch das Nichts wollen, als nicht wollen.“ Dieser Wille zum Nichts wird auch im Theater bedient.

Wie kann das Theater diese Welle der Untergangsstimmung brechen? Frank Castorf, der große Theaterzertrümmerer, erzählte in seiner Laudatio auf Herbert Fritsch am Theatertreffen erstaunlicherweise eine Geschichte vom Glauben. Er würdigte Kirillow aus Dostojewskis „Dämonen“, der darin vertraute, dass alle Menschen im Grunde gut seien und der auf den Menschgott (nicht den Übermenschen) wartete. Castorf:

„Ich glaube, wenn man am Ende seines Lebens beginnt, darüber nachzudenken, wie man sich retten kann, ist es wichtig, dass man sich in dieser Form von Grellheit klar macht, dass das Leben eigentlich gut ist. Wir müssen daran glauben. Wie dieser Kirillow, dieser Außenseiter, […]“.

Das ist nicht nur Castorfs Altersmilde, die den Glauben zur privaten Seelenrettung entdeckt. Es ist eine Aufforderung, die Ironie nicht in Zynismus abrutschen zu lassen und sich gegen die ständige Wiederholung der Krise zu behaupten, um so den Dekadenzaffekt einzudämmen. Castorf fordert, stattdessen die Perspektive der Außenseiter*innen und Unterdrückten einzunehmen. Für das Theater bedeutet das, sich nicht der Zerstörung theatraler Formen und ihrer Inhalte hinzugeben, sondern an das Theater zu glauben. Das ist nicht einfach, wie Simon Stones Inszenierung zeigt, die ihren Glauben an die Figuren verliert und wie „Die Borderline Prozession“ zeigt, die den Glauben an das Format des Theaters aufgibt.

Im besten Fall ein Spiel

Castorfs Wiederentdeckung des Theaterglaubens kann vor dem Hintergrund des erstarkenden rechten Populismus gesehen werden. Das AfD-Parteiprogramm aus Sachsen-Anhalt hat das Theater nachhaltig beunruhigt. Es sieht vor, das Theater zu instrumentalisieren und in einen nationalen Kult einzuschnüren. Das Parteiprogramm zeigt: Die Rechte hat Pläne, was nach der Krise kommen soll. Und die Beunruhigung zeigt: Das Theater merkt, nicht zuletzt, wenn es nach Polen und Ungarn schaut, dass diese Pläne Realität werden könnten. Der Dekadenzaffekt mit seinem Zynismus und seiner stumpfen Wiederholung spielt den rechten Forderungen in die Hände. Das Theater darf sich der Krise nicht hingeben.

Herbert Fritsch, dem Castorfs Rede galt, rollt das Theater vom befreiten Spiel der Schauspieler*innen und dem wuchernden Kostüm her auf. Milo Rau setzt in „Five Easy Pieces“ auf die Perspektive der spielenden Kinder. Beide zeigen etwas, das sehr kitschig klingt: Das Theater kann die befreiende Macht des leichten Spielens von den Schauspieler*innen und den Kindern lernen. Nietzsche hatte sein Leben lang Angst vor dem „Geist der Schwere“, davor, in den „europäischen Nihilismus“ hinabgezogen zu werden. Dagegen setzte er auf die Leichtigkeit, den Tanz und das Spiel. Danke an die Beteiligten von „Five Easy Pieces“ für die wichtige Erinnerung daran, dass Theater schwindelerregende und doch begehbare, ja betanzbare Brücken über dem Abgrund bauen kann. Das Leben ist nicht „nur“ ein Spiel, es ist im besten Fall ein Spiel.

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Johannes Siegmund

1987, Philosoph, Autor, Wien. Arbeitet an Formaten, die Philosophie, Kunst und Politik verbinden: Redakteur bei der Zeitschrift für politisch-philosophische Einmischungen engagée, Teil des Kollektivs philosophy unbound, Kritiken für die nachtkritik. Er schreibt an der Universität der bildenden Künste Wien an seiner Promotion "Philosophie der Flucht" und unterrichtet politische Theorie an der Universität Wien.

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