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Der Sonntag stand mit dem Theaterpreis für Herbert Fritsch und einer Buchvorstellung im Zeichen von Abschied und Kulturkampf. Doch wo beginnt das Neue?

Der Sonntag stand mit dem Theaterpreis für Herbert Fritsch und einer Buchvorstellung im Zeichen von Abschied und Kulturkampf. Doch wo beginnt das Neue?

Das Zu-Ende-Gehen lässt sich im Theater nicht vermeiden. Mit den Figuren geht es in den Stücken oft zu Ende und so gern das Theater auch die ganze Welt wäre: Irgendwann geht auch der intensivste Theaterabend zu Ende und alle gehen. Das gilt sogar für Frank Castorf, auch wenn er das Zu-Ende-Gehen in seinen ausufernden Inszenierungen und seiner bemerkenswert langen Intendanz immer so weit wie möglich heraus geschoben hat.

Am zweiten Tag des Theatertreffens wurde zurückgeschaut darauf, was das Ereignis Volksbühne war. Am Sonntagmittag wurde bei der Verleihung des Berliner Theaterpreises an Herbert Fritsch auch die Ära Castorf gefeiert, wobei der Kulturkampf-Pathos durch allerlei Fritscheskes gekonnt abgefedert wurde. Und beinahe anschließend stellte der Jet-Set-Kulturberater, Autor und Filmemacher Michael Schindhelm seinen neuen Entwicklungsroman „Letzter Vorhang“ vor, in dem er satirisch erzählt, was das Nachwendetheater in Berlin ausmachte.

Die leere Mitte Berlins

Der Protagonist in Michael Schindhelms Roman „Letzter Vorhang“ hat Augenringe wie Jahresringe. In diese Ringe hat sich viel Geschichte eingegraben und der Roman forscht nach, was das eigentlich war: Nachwendetheater in Berlin. Rund um den Fall der Mauer und den Fall des letzten Vorhangs erzählt Schindhelm die Wendezeit des Theaters, die mit Castorfs Intendanz endgültig zu Ende geht. In der leeren Mitte Berlins schien alle Ordnung in einer Heterotopie aufgehoben. Zwischen Ost und West waren kulturrevolutionäre Visionen möglich und in der Revolution drehte sich, passend zum Logo der Volksbühne, die Zeit im Kreis und lief trotzdem weiter. Schindhelm beschreibt all die Menschen, die eine „soziale Heimat“ in diesem Ort außerhalb von Raum und Zeit gefunden hatten.

Seit vielen Jahren ist der Autor Michael Schindhelm nun raus aus dem Theater, draußen in der internationalen Kunstwelt, macht Filme in China und berät in Dubai. Er hat das Ende des Theaters anscheinend gut überstanden und ist nach London gezogen. Mit diesem Abstand schaute er im Gespräch nach der Lesung zurück auf das Theater und skizzierte in wenigen Minuten einen Rahmen für die Interpretation des Theaterstreits und eine Geschichte des Nachwendetheaters in Berlin.

Die alte Ordnung hat im Osten überlebt

Die Berliner Theaterdebatte zeige, wie wichtig das deutschsprachige Sprechtheater sei und wie sehr sich das Publikum mit seinen Theaterinstitutionen identifiziere. Die Debatte habe aber noch eine Tiefenschicht: „Unter der Benutzeroberfläche der hippen, kosmopolitischen, touristischen Stadt Berlin“ hat der Streit, so Schindhelm, die Spannungen zwischen Ost und West aufgezeigt. Während sich der Westen mit den 68ern von Hierarchien befreit habe und Partizipation einforderte, habe die alte Ordnung und ihr preußischer Drill im Osten überlebt und als Gegenreaktion einen nonkonformistischen, radikalen Individualismus erzeugt. Die Spannungen zwischen Ost und West seien in Berlin zusammen geprallt und hätten sich in einem „Furor des Anderswerdens“ entladen. Die Berliner Theaterdebatte könne dabei aber nicht über einen Fakt hinwegtäuschen: „Es ist alles längst vorbei“. Das Nachwendetheater hätte nur immer noch nicht verstanden, dass es gestorben sei, und ergehe sich in „Exzess und Wahnsinn des Abschieds.“

Hat das Neue längst schon anderwo begonnen?

Das Gespräch mit all den großen Thesen war ein guter Teaser für Schindhelms neues Buch. Die Werbung braucht es auch, denn es hat Konkurrenz: Auch Claus Peymann verkauft vor den Berliner Festspielen sein Buch und zieht darin Bilanz aus 17 Jahre Intendanz am Berliner Ensemble. Der Kampf um die Deutungshoheit darüber, was das Theater der Wende war, hat begonnen.

Bei all der Rückschau blieb offen, wie es mit dem Theater weiter geht und welche neuen Revolutionen anstehen: Herbert Fritsch zweifelte in seiner Dankesrede an der Kompetenz Chris Dercons, wollte aber doch auch erst einmal abwarten, was der ab Herbst liefert. Was Dercon mit der Volksbühne vorhat, weiß Schindhelm, wollte es uns aber nicht verraten. – Bei all dem Fokus auf die Volksbühne hat das Neue vermutlich aber längst schon anderswo begonnen: Vielleicht in Dortmund mit der „Borderline Prozession“?

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Johannes Siegmund

1987, Philosoph, Autor, Wien. Arbeitet an Formaten, die Philosophie, Kunst und Politik verbinden: Redakteur bei der Zeitschrift für politisch-philosophische Einmischungen engagée, Teil des Kollektivs philosophy unbound, Kritiken für die nachtkritik. Er schreibt an der Universität der bildenden Künste Wien an seiner Promotion "Philosophie der Flucht" und unterrichtet politische Theorie an der Universität Wien.

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