Das Herz des Festivals

Über vermeintliche Rahmen- und eigentliche Hauptprogramme.

Yvonne Büdenhölzer ist seit 2012 Leiterin des Berliner Theatertreffens und in dieser Funktion maßgeblich an der Konzeption, Ausrichtung und Ausgestaltung des Festivals beteiligt. Bei unserer Redaktionssitzung im April, der ersten des diesjährigen Theatertreffen-Blogger*innen-Teams, bezeichnete sie die zehn eingeladenen „bemerkenswertesten Inszenierungen“, die von einer ausschließlich aus Kritiker*innen bestehenden Jury in einem langen Sichtungs- und Diskussionsprozess ausgewählt werden, als das „Herz“ des Festivals, um das sich alle weiteren Veranstaltungen gruppieren.

Die G10 des Theaters

Das Herz. Strukturell stimmt das natürlich – das Theatertreffen ist seit seiner Gründung 1964 auf das Zeigen dieser „zehn bemerkenswertesten Inszenierungen“ ausgerichtet und damit seit jeher eine Art Leistungsschau. Bis heute konzentriert sich die mediale Berichterstattung maßgeblich auf diesen Bereich des Theatertreffens, das Schaulaufen der Theater-G10 vor einer vermeintlich elitären Kennerschar. Aber gefühlt will diese Vormachtstellung der G10 für mich nicht ganz stimmen. Oder vielleicht will ich sie auch nicht akzeptieren. Denn im letzten Jahr war ich nicht als Bloggerin, sondern als Zuschauerin beim Theatertreffen und hatte eher den Eindruck, dass die G10 von all den Aktivitäten um sie herum – Stückemarkt, Internationales Forum, Themenschwerpunkte, Diskussionsrunden – fast überrollt oder zumindest relativiert werden. Dieser Trend zu Theaterkonzepten, in denen Inszenierungen nicht mehr den Haupt-, sondern nur noch einen Bestandteil des Spielplans ausmachen, ist nun bereits seit mehreren Jahren zu beobachten und findet seine konsequenteste Ausformung derzeit an den Münchner Kammerspielen. Dass sich auch das Theatertreffen in diese Entwicklung einreiht, halte ich für absolut begrüßenswert. Denn die zehn ausgewählten „bemerkenswertesten Inszenierungen“ als Leuchttürme der deutschsprachigen Theaterlandschaft einer Saison zu begreifen und sie als Monumente in den Theatertreffen-Kosmos zu setzen, das wäre schade und auch nicht Sinn und Zweck der gesamten Veranstaltung, so wie ich sie begreifen möchte.

Wüste Gegend inmitten der Zivilisation

Das Theatertreffen entwickelt sich vielmehr seit einigen Jahren zu einem Diskurs- und Diskussionsraum, der die „zehn bemerkenswertesten Inszenierungen“ zwar einschließt, sich aber nicht auf sie beschränkt. Und dass das so ist, liegt an all den Menschen, die das Festival wahrnehmen, besuchen, bespielen, vor- und nachbereiten und gestalten. Daher werden wir Blogger*innen in diesem Jahr, zusammen mit unserer Fotografin Judith Buss, versuchen, immer wieder Eindrücke von Arbeitsprozessen und -bedingungen einzufangen. Denn hinter den Kulissen ist das Theatertreffen keine elitäre Veranstaltung, ebenso wenig wie Theaterarbeit an sich. Und auch vor den Kulissen oder vor dem Eisernen Vorhang sollte es keine elitäre Veranstaltung sein. Denn wer oder was kann Elite sein in dieser wüsten Gegend inmitten der Zivilisation, die sich Theater nennt und die bereits viel zu stark domestiziert wurde – oder sich domestizieren lässt?

Das Herz des Festivals, das sind nicht die „zehn bemerkenswertesten Inszenierungen“, das sind die Menschen, die Lust haben, sich mit Theater in all seinen Facetten zu beschäftigen, und zwar ohne Scheu, Elitedenken oder Gedankenbarrieren verschiedenster Art. Wir Blogger*innen werden versuchen, ein paar dieser Menschen zu zeigen – und selbst ebensolche zu sein. Denn Theater ist, wie Heiner Müller 1989 in einem Gespräch mit Robert Weimann anmerkte, eine Expedition. Eine Expedition, die man gemeinsam machen muss.

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Andrea Berger

Andrea Berger, Jahrgang 1983, studiert Dramaturgie in an der Theaterakademie August Everding. Arbeitet als freie Produktionsdramaturgin, schreibt für das Münchner Feuilleton und assistiert beim Münchner Tanz- und Theaterfestival RODEO 2016. Lebt in München und Wien.

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