Das unbedingte Theater. Eine Kompetenzüberschreitung

Dies ist ein Beitrag von Gastblogger Manouchehr Shamsrizi.
Präambel
Eine einfache Frage hat mich in tiefe Verzweiflung gestürzt: ob ich eine Meinung zur Zukunft des Theaters hätte, und noch dazu Lust die dahinterliegenden Gedanken (von denen ausgegangen wurde) zu sortieren und im Rahmen dieses Blogbeitrags mitzuteilen. Ich hatte, und ich wollte. Allerdings hatte ich primär keine Vorstellung davon, was diese Frage auslöste. Oft wollte ich einfach abbrechen: für diesen Text gibt es knapp ein Dutzend ausformulierter Anfänge, von denen mir selbst „Retrospektiv lässt sich vermutlich feststellen, das Theater schon immer war.“ am besten gefällt. Gefolgt wäre diesem Satz ein Essay über den Zusammenhang von Ritual und Theatralität, von der Art pariétal des Jungpaläolithikums über Max Reinhardts einschlägige Inszenierungen (1902: Salome, 1903: Elektra, 1910: Ödipus, 1911: Orestie) und den „Cambridge Ritualists“ bis zu Dimiter Gotscheffs Vorstellung von Theater als ein „heiliges Ritual“. Ein anderer Anfang zog einen Vergleich von Christoph Schlingensiefs beeindruckender „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ mit der notae ecclesiae, der „einen, heiligen, katholischen und apostolischen“ Kirche der Christenheit – eine faszinierende intellektuelle Fleißarbeit, die zum Schluss dann leider durch völlige Bedeutungslosigkeit im Hinblick auf diesen Beitrag herausragte. Schließlich entstand der anmaßende Versuch einer Handreichung zum Theater-Marketing, die sich Notizen aus 2007 verdankte; ein „key takeaway“ war dabei die Neu-Erinnerung daran, dass die Betriebswirtschaftslehre allein ein denkbar ungeeignetes Instrumentarium für die Zukunftstauglichkeit von (Theater-)Kultur darstellt. Während von dieser Vorarbeit also nur Fragmente erhalten geblieben sind, gibt es doch Erkenntnisse, die zu erinnern sich lohnen. Ist dem geschätzten Leser beispielsweise bewusst, dass es für eines der meistverkauften Computerspiele (inzwischen ja auch nicht mehr nur in Schutzbehauptungen von männlichen Jugendlichen, sondern auch hochoffiziell ein Kulturgut) einen Mod gibt, bei dem Theater gegen Zombis … ach, sehen Sie selbst:
Oder dass William Shakespeare nicht nur der bei weitem überzeugendere „Star Wars“-Autor gewesen wäre …
… sondern auch erfolgreich seinen Autorenkollegen Theodor Seuss Geisel aka. Dr. Seuss ge„dissraped“ hat?
Genug davon, der edukative Gehalt dieser Selbstbeobachtung hat zwar seinen Tiefpunkt noch nicht erreicht, aber zur Zukunft des | der Theater(s) haben wir auch noch nicht beigetragen. Und auch wenn es manchen Leser überraschen mag, zumindest werden wir uns daran versuchen – und sei es nur, um für die Veröffentlichung der bisherigen und der folgenden Vimeo-Videos auf dem Blog des Theatertreffens eine Legitimation zu entwickeln …
Die Grundformen der Angst vor dem Neuen in uns, oder: vier thesenhafte Szenarien für die Theater(in)szen(ierung)e(n) der Zukunft
Wir machen Anleihe bei dem Psychoanalytiker und Vater der Angstforschung Fritz Riemann, dessen Werk „auch 50 Jahre nach seinem Erscheinen […] zur Lektüre jeder Psychologieausbildung gehört“. In seinen „Grundformen der Angst“ beschreibt Riemann „letztlich [die] vier verschiedene Arten des In-der-Welt-Seins“. Diese vier Grundformen entwickelt Riemann in zwei Impulspaaren, die sich widersprüchlich gegenüber stehen: dem Wunsch nach einer Distanz zur Welt und ihrer Sozialität, um seine Individualität nicht in Gruppen zu verlieren, steht die Angst vor einer Selbstwerdung entgegen, die geeignet wäre den Zusammenhalt mit seinen Mitmenschen zu verlieren und zu vereinsamen. In der zweiten Paarung stehen sich die Angst vor Veränderungen und die Angst vor Stagnation gegenüber. Diese Impulse lassen sich, so Riemann und seine Schüler, auf Dauer weder ignorieren noch versöhnen – einzig die permanente Selbstbeobachtung und -adaption erlaubt die Reifung und Lebensfähigkeit des Individuums. Der Versuch einer solchen Selbstbeobachtung im Organisationalen erscheint auch für das Theater angebracht; sie fußt neben Riemanns Unterscheidungen, auf den jüngeren Weiterentwicklungen der soziologischen Systemtheorie (unter besonderem Einfluss der Medienarchäologie), Konzepten des philosophischen Posthumanismus, Ästhetikkalkülen der russischen Literaturwissenschaft zum „Chronotopos“ und schließlich dem Diskurs der Architektursprachen um postmoderne Raumgestaltung – ohne jedoch die jeweilige Ideengeschichte, Theorien und ungewöhnliche Theatralitäten an dieser Stelle in Gänze ausführen zu können. Wir werden für die Zukunft des Theaters also zwei Gegenfüßlerpaare (latinisiert Antipodes, geläufig (!) als „Antipoden“, mit faszinierender Etymologie; der Verfasser dieses Textes ist DRINGEND auf der Suche nach geeigneten Visualisierungen! Vielleicht liegt in der Gleichzeitigkeit einer Gegenüberstellung zu Platons Kugelmenschen das Potenzial eines wunderbaren Comics? Gedacht wird an „Menschen, wie wir sie nie waren – eine überflüssige Tragikomödie des Ahistorischen“) vorstellen, Freunde, die sich im Jahre 2034 unterhalten. Dabei empfindet ein Gegenfüßlerpaar besondere Freude an den Formen des Theaters, während das zweite sich für die inhaltsgetriebene Funktion des und funktionale Inhalte am Theater begeistern kann – sie sind jedoch jeweils unterschiedlicher Meinung. An die erste Unterhaltung knüpfen sich mögliche neue Konstellationen von Theaterbesuchen, deren (Selbst-)Beobachtung später erfolgen soll.
I. Theater als Antithese zur Nächsten Gesellschaft
vs.
II. Theater als erster Hybrid
blogger-image--105518549
„Paradoxerweise stehen die europäischen Gesellschaften in einer Phase des radikalen Umbruchs, weil man sich Umbrüche – vor allem radikale Umbrüche – keinesfalls wünscht. Neue Bahnhöfe gar nicht mehr und neue Autos mit viel weniger Innbrunst als noch vor einem Jahrzehnt. Vielleicht haben sich ja auch die Zeithorizonte verändert, in denen man inzwischen den Alltag erlebt.“ – Hans Ulrich Gumbrecht
Während ihrer Ankündigung und der Implementierung ihrer ersten Fragmente lädt die „Next Society“, die dem gesprochenen Wort, der Schrift und dem Buchdruck nun den Computer als Leitmedium (und damit einhergehende Überforderungen ihrer Institutionen und Organisationen, auch des Theaters) an die Seite stellt, gleichzeitig zu frühen Formen ihrer eigenen Krise ein …
… die von Milieu zu Milieu und von Weltanschauung zu Weltanschauung unterschiedlich beantwortet werden. Als soziologisch spannendes Labor haben sich dabei Bars herausgestellt, sei es, dass sie Google Glasses in San Francisco verbieten oder in Kreuzberg zwar keine EC-Karten, dafür aber Kryptowährungen akzeptieren. Die hybride Gesellschaft – eine technologiezentrierte Form der Beobachtung der Next Society – zieht ihre Terminologie jedoch auch und insbesondere durch die Idee einer „Human-Technology Co-Evolution“, ausgelöst durch sogenannte Emerging Technologies, die von Augmented reality über Robotik, Synthetischer Biologie und Maschineller Übersetzung bis zur Bionik reichen. Wer die Verbindung dieser Entwicklungen zu den Künsten durch den MIT-Wissenschaftler Hugh Herr erleben möchte, ist auf die wunderbare Geschichte der Tänzerin mit bionischer Prothese verwiesen:
Unsere Gegenfüßler haben nun zwei Möglichkeiten um Umgang mit diesen Innovationen = Interventionen: das Theater kann sich als chronotopische Antithese begreifen und einen Raum zum Rückzug bieten. Einen Raum, der seine Theatralität bewusst auf diesen einen Ort und diese eine Zeit reduziert, unsere breite Gegenwart abzubilden. Das Theater kann sich aber auch als Quarantäneraum der Gesellschaften begreifen, und (s)eine Verantwortung darin sehen in der langen Tradition von Quarantäneritualen den Umgang mit den Emerging Technologies in Theorie und Praxis zu diskutieren, um dem Diskurs über die Human-Technology Co-Evolution eine tatsächlich humanistische Dimension zu verleihen. Beides, ein Theater als Schutzraum vor oder Quarantäne für die Nächste Gesellschaft hat seine Legitimation. Der Reiz der Achtsamkeit und Gegenwart liegt auf der Hand, gleichzeitig liegt den ersten Inszenierungen mit Robotern als Schauspielern, synthetisch erzeugter Pflanzenwelt und erweiterter Sinneswahrnemungen auf der Bühne und für das Publikum (sollte diese Unterscheidung dann noch von Relevanz sein) ein ungeheureres Potenzial inne, als Kunstform Gesellschaft zu verstehen und zu gestalten. Den Eintritt zahlt man dann übrigens am sinnvollsten in Dogecoin.
PS: In Japan, wo eine virtuelle Künstlerin Konzerte für Hunderttausende gibt,  scheint zumindest die Musikindustrie schon einige Vorentscheidungen zu ihrer Positionierung getroffen zu haben. Vorgeschmack gefällig?
 
III. Theater als wieder erstarkte moralische Anstalt
Während sich hier wunderbarer Bezug auf Friedrich Schillers Rede zur „Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ ziehen ließe (was der Verfasser an anderen Stellen versucht hat, in Theorie und früher Praxis), gibt es doch keine bessere Einführung in den Grundgedanken als Bart Simpsons legendären Auftritt als Hamlet, der sich geschickt des theatralischen Talents von Krusty dem Clown bedient, um (nun doch Schiller) eine „Gerichtsbarkeit der Bühne“ dort einzuführen, „wo das Gebiet der weltlichen Gerichte sich endigt“:
vs.
IV. Theater als individualpsychologisierte Katharsiskkakophonie
„In diesen Zeiten, die sich durch zunehmende Komplexität in sämtlichen Politikfeldern und ein maximales Stochern im Nebel als Versuch der Steuerung kennzeichnet, ist die Vorstellung | Notwendigkeit der Schaubühne als eine moralische Anstalt aktueller denn jeh“, denkt sich einer unserer Gegenfüßler. Seinem Konterpart wäre es allerdings lieber, die Kunst würde ihm jetzt nicht auch noch mit Politisierung auf die Nerven gehen, schließlich soll im Theater Unterhaltung oder maximal ein Beitrag zu seiner kathartischen (quod est dubitandum) Persönlichkeitsentwicklung geliefert werden . Und überhaupt, das sei doch garkeine wirkliche Kunst mehr wenn statt Schauspielern nun Arbeitslose, AusländeVergewaltiger auf den Bühnen stehen, oder gar die Gefühle religiöser Mitbürger angegriffen werden. Früher war halt alles besser (quod est dubitandum, Klappe die zweite).
Auch hier bieten sich mithin zwei Optionen an: jeder Theaterschaffende kann sich (weiter) politisieren, oder gerade davor (weiter) zurückschrecken. Die Politisierung des Zurückschreckens ist dabei nur ein temporäre Hintertür, die zur ersten Option führt.
Ein Appell als Epilog
Für alle Gegenfüßler lassen sich nun Präferenzordnungen spieltheoretischen Ausmaßes finden – was die Aufgabe jedes beteiligten Akteures zu jeder relevanten Zeit sein wird. An den Achsen „Umgang mit Technologie | Virtualität | Digitalität“ (I.&II.) und „Umgang mit der Gretchenfrage nach dem Politischen“ (III.&IV.) werden sich die Zukünfte des Theaters orientieren können, ebenso die Beobachtungen der sie tragenden und ertragenden Gesellschaften. Diese Orientierung kann nur grob und lückenhaft bleiben, fußt sie doch im Sinne Dirk Baeckers auf einem „interdisziplinäre Wagnis hart an der Grenze der Kompetenzüberschreitung“. Den sie legitimierenden Diskurs zu den grundsätzlichen Thematiken allerdings müssen wir trotz der Unzureichenheit anregen und führen, während und nach des Berliner Theatertreffen, soll das Theater auch in Zukunft seine Anschlussfähigkeit frei von tithonosischen Fehleinschätzungen erleben.
Wir sollten nicht nur unbedingt Theater, sondern das „unbedingte“ Theater wollen, für das frei nach Derrida gilt: Das Theater müsste also auch der Ort sein, an dem nichts außer Frage steht. Insbesondere nicht Form und Funktion des Theaters selbst.
Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.

–––

Manouchehr Shamsrizi

Alle Artikel