Ist es Zufall, dass der einzige deutschsprachige Text beim diesjährigen Stückemarkt von Flucht und Vertreibung handelt? Unsere Autorin erlebte bei der szenischen Lesung von Amir Gudarzis „Die Burg der Assassinen“ ein klagendes Epos von größter Poesie.
Passende Worte zu Amir Gudarzis zum Stückemarkt eingeladenem Text „Die Burg der Assassinen“ zu formulieren, ist ein bemerkenswert herausforderndes Unterfangen. Warum? Weil die Sprache dieses Autors, der noch nicht einmal Deutsch-Muttersprachler ist, so unfassbar facettenreich, wortgewandt, intelligent und poetisch ist, dass ihnen kaum beizukommen scheint.
Mehrere Geschichten und noch mehr Geschichte werden im Rahmen der szenischen Lesung von Jasna Fritzi Bauer, Eray Eğilmez, Ferdinand Lehmann und Katrin Wichmann parallel zueinander verhandelt oder angerissen. Alles folgt einer klaren, klugen Dramaturgie (Schaubühnen-Dramaturgin und -Autorin Maja Zade), alle Erzählstränge werden immer wieder ineinander verwoben, durchkreuzen sich und gestalten nicht zuletzt dadurch den Rhythmus dieses Stücks. Sie alle verbinden durchweg die Motive der Bewegung und des Todes, der hier anscheinend allen auf den Fersen scheint.
Es geht um Fluchtgeschichten, begleitet von zwei Tod bringenden Sphinxen, die an den Toren Europas sitzend nur diejenigen hineinlassen, die ihre Fragen richtig beantworten können — diejenigen vor allem, die intelligent und ausreichend ausgebildet sind. Sie sind das Synonym der abschottenden Politik Europas, das unzählige Menschen an seinen Grenzen sterben lässt. Jenes Europa, das für Zigtausende eine Art Fata Morgana ist und bleibt. „Ein anderer Er“ tritt auf, trifft auf dem Weg nach Europa auf zwei Prostituierte, die ihn erst im zweiten Moment als Flüchtenden (und nicht als neuen Kunden) erkennen. Auch sie wollen eigentlich an einen besseren Ort, können aber nicht, weil ihre Lage, ihre Herkunft, nicht „misslich“ genug ist, um damit dauerhaften Eintritt nach Europa gewährt zu bekommen. Eine von ihnen hilft dem Flüchtenden unbemerkt in den Laderaum eines LKWs. Parallel dazu, auf ebene jenen europäischen Autobahnen, auf denen sich einige Menschen auf dem Weg in eine bessere Zukunft, auf dem Weg des Überlebens befinden, sind privilegierte Europäer*innen in ihren bequemen Autos unterwegs in oder aus dem Skiurlaub in Österreich oder der Schweiz, rasen Berge hinab, die sich in diesem Stück ebenfalls zu Wort melden werden.
Ein Berg wehrt sich
Einer von ihnen erbost sich über eben jene Europäer*innen, die seinen Frieden und den Frieden aller Berge mit ihrem Lärm, ihren Grenzziehungen und Kriegen stören. Später fasst er den Entschluss, die anreisenden Skiurlauber*innen mit seinen eigenen Kindern, den Steinen, zu überrollen, damit wieder Ruhe herrsche. Sie treffen am Ende aber nicht die Autos der Europäer*innen, sondern rollen lediglich auf die Autobahn, bleiben auf ihr liegen und versperren sie. Die Ladeflächen der LKWs, in denen die Flüchtenden reisen, werden hingegen getroffen — sie schaffen es nie nach Europa.
All das erzählt Amir Gudarzi mit einer Poesie, die man gelesen oder gehört haben muss. Er fühlt der Sprache selbst auf den Zahn, versucht herauszufinden, wie sie schmeckt, wie sie riecht. Er thematisiert ihre Macht, schafft es, so viele, extrem unterschiedliche Stimmen authentisch zu formulieren, versteht es genau, aus zwei Perspektiven zu schreiben — aus jener der Fliehenden, Vertriebenen und aus der des Europäers, des Österreichers, dessen Sprache er sich in den letzten zehn Jahren selbst erst virtuos zu eigen gemacht hat. So wie alle in diesem Stück (bis auf die Sphinxen, die an ihren Plätzen festsitzen), ist auch die Sprache ständig in Bewegung, besitzt einen Rythmus, der sich stets zum Takt des Erzählten verhält. Der Chor der Europäer*innen, der immer wieder ausruft, was jemand diesen anderen, die nach Europa wollen, sagen soll, um Europa zu desillusionieren, zu entzaubern, fügt sich nahtlos in den schwebenden Schritt der Sprache.
Niederschwebende Textblätter
Die Lesenden, die das an diesem frühen Abend bewältigen müssen, springen gekonnt zwischen Duktus und Charakter – und das in häufig wechselndem, meist sehr schnellem Lesetempo. Das zu bewerkstelligen, verdient Respekt. Besonders Jasna Fritz Bauer hat das Geschehen mit ihrer sehr eigenen, charakteristischen Stimme fast laufend unter Kontrolle.
Man könnte vielleicht irritiert darüber sein, warum das lesende Ensemble so weiß, warum keine Stimme mit Fluchthintergrund zu hören ist. Oder sich fragen, warum das Podest, auf dem die Lesenden sich bewegen und sprechen, von Kunstrasen und Pflanzen gesäumt ist. Am Ende aber bleibt die Sprache. An ihr reibt sich dieser Abend auch ganz plastisch: Die gelesenen Textblätter, die laufend von der Besetzung fallengelassen werden, pflastern schließlich den Kunstrasen. Dieser Text, wenigstens, er ist in der Mitte Europas angekommen.
Die Burg der Assassinen
von Amir Gudarzi
Szenische Einrichtung: Lilja Rupprecht
Dramaturgie: Maja Zade
Ausstattung: Anne-Laure Jullian de la Fuente
Musik: Friederike Bernhardt
Mit: Jasna Fritzi Bauer, Eray Eğilmez, Ferdinand Lehmann, Katrin Wichmann