„Die Grenzen müssen aufgehoben werden" – Ein Interview mit Journalistin Maike Hank

Manuel Braun traf während des Theatertreffens verschiedene Persönlichkeiten, um über das Verhältnis von Theater und Netz zu sprechen. Darunter waren z.B. Johan Simons und Ada Blitzkrieg. Nun unterhielt er sich mit der Journalistin Maike Hank darüber.

Ich treffe mich mit Maike Hank in einer Berliner Eckkneipe. Seit Jahren lese ich sie auf Twitter und freue mich wahnsinnig, sie endlich persönlich kennenzulernen. Ziel des Gesprächs soll es sein, herauszufinden, wie gesellschaftliche Diskurse im Internet entstehen und wie das Theater als Impulsgeber dazu beitragen kann. Maike Hank ist Print-Redakteurin und schreibt seit 2002 auch online. An einer der ersten Buchveröffentlichungen über die deutsche Blogosphäre, „Blogs! Fünfzehn Blogger über Text und Form im Internet – und warum sie das Netz übernehmen werden„, war sie als Autorin beteiligt. Das Buch erschien 2004, also fünf Jahre bevor das erste Theatertreffen-Blog das Licht des Netzes erblickte. Sie ist außerdem Autorin des Kollektivblogs „kleinerdrei„, wo regelmäßig Texte zu verschiedenen, meist gesellschaftlichen und popkulturellen Themen, veröffentlicht werden. 2013 erschien dort ihr Text „Normal ist das nicht!„, der u.a. die Entstehung des Hashtags #aufschrei und damit eine nationale Debatte über Sexismus auslöste.

Manuel Braun: Was ist der #aufschrei?
Maike Hank:
Anfang 2013 erschien im Stern ein Porträt von Laura Himmelreich über Rainer Brüderle. Die Journalistin erhob in diesem Artikel Sexismusvorwürfe gegen den Politiker. Schon davor hatte Annett Meiritz im Spiegel über frauenfeindliche Erlebnisse im Umfeld der Piratenpartei berichtet. Zufälligerweise erschien am selben Tag  ein schon lange geplanter Text von mir, der sich mit sexuellen Übergriffen im Alltag beschäftigte. Der Beitrag motivierte Nicole von Horst, abends auf Twitter, von ihren persönlichen Erlebnissen mit sexuellen Übergriffen zu berichten. Anne Wizorek schlug daraufhin vor, die Erfahrungen unter dem Hashtag #aufschrei zu bündeln, angelehnt an den Hashtag #shoutingback des Everyday Sexism Projects. Unglaublich viele Frauen folgten, ohne einen expliziten Aufruf, Nicoles Beispiel, weil sie sich von dem Mut anstecken ließen und genau so ein Bedürfnis hatten, ihre Geschichten zu teilen. In der Nacht wurden unfassbar viele Tweets veröffentlicht. Sie erzählten von persönlichen Erfahrungen von Frauen, die sexuell belästigt oder missbraucht wurden. Das war unglaublich! Selbst jetzt, wenn ich darüber spreche, bekomme ich sofort wieder Gänsehaut. Und es hörte nicht mehr auf. Jeden Tag wurde weiter in dieser Form zu dem Thema getwittert. Alle Tweets dazu können hier nachgelesen werden. Unter alltagssexismus.de können Betroffene anyonm ihre Erfahrungen teilen.
#aufschrei fungiert mittlerweile als Label für das, vormals als verstaubt angesehene, Wort Sexismus. Der Hashtag und alle, die sich konstruktiv an der Debatte beteiligten, haben im vergangenen Jahr als erster Hashtag überhaupt den Grimme Online Award gewonnen.

MB: Wie wurde aus der persönlichen Erfahrung eine deutschlandweite Diskussion?
MH:
Wir hatten das Glück, dass die Mainstream-Medien mit Rainer Brüderle einen Aufhänger für das Thema hatten, denn es war Wahlkampf. Noch heute denken die meisten, dass er der Auslöser für #aufschrei war. Das stimmt so nicht. Er, bzw. die Diskussion um sein Verhalten, war höchstens der Katalysator, der das Ganze vom Internet in die Zeitungen und vor allem ins Fernsehen gebracht hat. Günther Jauch hatte danach kurzfristig das Thema seiner Sendung geändert, und auf einmal saß Anne Wizorek dort. Das war verrückt und toll. #aufschrei hat die Diskussion auf den Alltagssexismus ausgeweitet – vorher ging es ja noch ausschließlich um das Verhältnis zwischen Politikern und Journalistinnen.

MB:  Werden diese Themen, über die du schreibst, auch  im Theater verhandelt oder aufgegriffen?
MH:
Ehrlich gesagt: ich habe keine Ahnung. Bis auf Podiumsdiskussionen zu dem Thema Sexismus, kann ich mich an nichts erinnern. Eine Freundin hat mich neulich darauf aufmerksam gemacht, dass im HAU demnächst ein Festival stattfindet, das sich mit Kunst und Politik nach Fukushima auseinandersetzt. Dafür interessiere ich mich sehr, aber ohne die Freundin, hätte ich das gar nicht mitbekommen. Ich gehe nämlich eher selten ins Theater und dann kaum in Stücke, die etwas offensichtlich Politisches, Aktuelles verhandeln. Das ist ganz sonderbar, weil für mich beim Kino diese Hemmschwelle nicht da ist. Neulich habe ich mir die „Paradies”-Trilogie von Ulrich Seidl am Stück angeschaut. Wenn so etwas im Theater gespielt würde, hätte ich gleich wieder das Gefühl, sicher irgendwas nicht zu verstehen, nicht diskursfähig oder intellektuell genug zu sein. Im Theater habe ich auch nicht das Gefühl, mich verkriechen zu können. Vielleicht fühle ich mich durch die Präsenz der Schauspieler und Schauspielerinnen dazu verpflichtet, Stellung zu beziehen, anstatt mich unbemerkt fallen zu lassen, so wie im Kino. Die Präsenz der Schauspieler ist aber eben auch gerade das Tolle. Wann immer ich dann doch mal im Theater lande, bin ich meistens ziemlich beeindruckt.
MB: Passen Theater und Netz überhaupt zueinander?
MH:
Aber ja! Alles, was es „draußen in der Welt” gibt, passt zum Netz. Das sind keine getrennte Welten. Das Internet bietet doch unzählige Möglichkeiten und eine hervorragende Infrastruktur, um Menschen zu erreichen, die Berührungsängste haben. Noch am ehesten findet man die Verschränkung von Theater und Internet bei kleinen, freien Projekten, die kaum Geld für Werbung und die Technik haben. Schwieriger wird es bei den großen Häusern, die sich doch eigentlich richtig austoben könnten. Ich habe keine Lösung, wie die Hemmschwelle gegenüber dem Theater abgebaut werden kann. Aber ich weiß, dass es mich meist stört, wie beim Theater selbst und auch in den Feuilletons über das Theater gesprochen wird. Als Laie fühle ich mich dadurch ausgeschlossen. Diese Sprache sagt mir: da gehörst du nicht hin und schon gar nicht hast du die Berechtigung, darüber zu urteilen, denn du hast keine Ahnung.
Immer, wenn ich im Theater war, fiel es mir schwer, andere irgendwie mit Material zu versorgen, das die Emotionen weckt und vermittelt, die  mich an einem Stück so ergriffen haben. Es wäre also vielleicht ein Anfang, online viel mehr Snippets zu den Stücken bereitzustellen: Making-Ofs, Interviewfragmente, ganz kurze Ausschnitte – oder womöglich sogar animierte Gifs. Das halbe Internet kommuniziert doch mit animierten GIFs.
Die Schaubühne hat zum Beispiel immer tolle Plakate. Könnte man mit den Sprüchen und den Ensemblemitgliedern nicht viel mehr Content erstellen, der dann im Netz verbreitet werden kann? Generell muss man einfach viel mehr ausprobieren, rumspinnen und auch mal vermeintlich Abwegiges versuchen. Erfolg und Verbreitung im Netz sind unberechenbar. #aufschrei war ja auch keine geplante Aktion.
Die Verantworlichen in den Theatern sollten sich außerdem die Mühe machen, solche Menschen mit diesen Netz-Aufgaben zu betrauen, die das Internet nicht nur kennen, weil sie dort Bücher bestellen und sich Konzertkarten kaufen. Das müssen Menschen machen, die das Internet lieben und dort zu Hause sind.
Außerdem könnten sie sich Leute aus dem Netz mit Reichweite suchen, die in Blogs übers Theater berichten. Und zwar keine Experten und Expertinnen, sondern Menschen, die an Geschichten und Themen interessiert sind, und die sich trauen dürfen, in ihrem Duktus und mit ihrer Herangehensweise über Inszenierungen zu schreiben. Ganz ohne theaterwissenschaftllichen Hintergrund, und ohne sich in der Szene auszukennen. Die Grenzen müssen aufgehoben werden!
Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.

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Manuel Braun

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